Graz - Aus seinem wohltemperierten Gefängnis der Selbstbescheidung erlaubte sich der zivilisierte bürgerliche Mensch einst dann und wann Ausgang. Er ging ins Theater, um dort mit einem leisen Schaudern die Stürme der Emotionen toben zu sehen, die sich nah und doch fern genug vor ihm abspielten (heute schaut er Actionfilme oder Dschungelcamp).

Auch für Richard Strauss war vor etwa hundert Jahren ein wesentliches Motiv für die Wahl des Elektra-Stoffes in der Darstellung Hugo von Hofmannsthals "der Wunsch, dieses dämonische ekstatische Griechentum Winkelmann'schen Römerkopien und Goethe'scher Humanität entgegenzustellen".

Johannes Erath verlegt Elektra & Co in die Klapse. Als sich der Vorhang zu einem lauten Herzklopfen vom Band hob, gelang dem Regisseur so das Kunststück, noch bevor der erste Ton erklungen war, der Tragfähigkeit seiner Inszenierung gleich doppelt ins Knie zu schießen: zum einen, weil er das handelnde Personal so jeder Fallhöhe beraubte (da es schon längst gefallen war), zum anderen, weil er dem Publikum so die Möglichkeit nahm, sich mit dem handelnden Personal zu identifizieren (wenn Königskinder morden, mordet der zahlende Zuschauer im Geiste ungleich lieber mit als bei weggesperrten Psychos).

Eraths weitere Arbeitshypothese: Orest, Elektras verschollener Bruder, lebt gar nicht mehr, sondern ist nur ein Traumbild (hier bezieht er sich auf das Libretto) Elektras, welche wiederum möglicherweise eins ist mit ihrer antipodischen Schwester Chrysothemis. Ägisth ist Anstaltsarzt, Mutter Klytämnestra aber rätselhafterweise (wie ausnahmslos alle anderen) Insassin der Anstalt.

Die Grazer fanden das alles toll und bejubelten Erath (es war nach einer Lulu und Don Giovanni seine dritte Arbeit am Haus) und sein Team (Bühne: Katrin Connan, Kostüme: Birgit Wensch). Geschäumt wurde lediglich im, aus und überm Orchestergraben, denn obwohl die reduzierte Fassung gegeben wurde, quoll das Orchester bis in die Proszeniumslogen herauf. In der zweiten Werkhälfte fand Chefdirigent Johannes Fritzsch nach einem eher harm- und farblosen Beginn zu Wärme, Wucht, und Schärfe.

Fünf famose Mägde, also psychisch Kranke (Kristina Antonie Fehrs, Fran Lubahn, Dshamilja Kaiser, Tatjana Miyus, Margareta Klobucar), ein vokale Autorität ausstrahlender psychisch kranker Alter Diener (Konstantin Sfiris) und ein charaktertenoraler Ägisth/Anstaltsarzt (Manuel von Senden) boten hohes sängerisches Niveau; der geträumte Orest (James Rutherford) sang einem gewinnend nobel vom Mittelrang in den Nacken.

Gesund wie eine Obstbäurin

Keine Figur, nur eine zur Karikatur auffrisierte, dauerhysterisierte Drag Queen, war Iris Vermillions Klytämnestra (mit Liza-Minelli-Augen, Nina-Hagen-Stimme und Miss-Candy-Posing); mit schlankem, hellem, behauptungsfähigem Sopran Gal James als Chrysothemis. Stephanie Friede bekam als Elektra, also als Mensch, der jahrelang die Hölle durchgemacht hat, eine Hausfrauenfrisur verpasst, wirkte gesund wie eine Obstbäurin und sang passend dazu mit walkürenhafter Durchschlagskraft.

Zweieinhalb Jahrtausende lang tröstete die griechische Tragödie mit der Botschaft: Alles Pathologische ist menschlich. Erath pervertiert die Chose und kräht: Alles Menschliche ist pathologisch! (Stefan Ender, DER STANDARD/Printausgabe 23.1.2012)