Wien - "Deutschland ist der absolute Hauptnutznießer der Krise" sagte Günter Verheugen, 1999 bis 2010 EU-Kommissar, in seiner Rede vor dem "Senat der Wirtschaft" in Wien. "Deutschland verdient derzeit an dieser Krise und zwar nicht zu knapp." Dabei müsse die derzeitige Regierung Schritt für Schritt Verteidigungslinien aufgeben, die unter dem früheren Kanzler Helmut Kohl und Finanzminister Theo Waigel aufgebaut wurden.

Es hätte keine Haftung für andere EU-Staaten geben sollen, nun gebe es sie. Die EZB kaufe Staatspapiere, "damit existiert die Unabhängigkeit der EZB nur mehr auf dem Papier". Deutschland habe sich immer gegen eine Wirtschaftsregierung für Europa gewehrt, spätestens mit dem Fiskalpakt, der Ende des Monats beschlossen werden soll, komme man dieser näher.

"Ich glaube, dass wir noch nicht auf dem Gipfelpunkt der Krise angekommen sind" sagte Verheugen, diese sei aber auch nicht mit dem Zusammenbruch der Bank Lehman "vom Himmel gefallen", sondern sei Folge einer "langen Entwicklung schwerer politischer Fehler". Insbesondere habe man in der EU nur auf die laufende Neuverschuldung (Defizit) gestarrt, aber die Gesamtverschuldung und die Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit zu wenig beachtet.

So sehr er auch dafür plädiert, der EU mehr Kompetenzen einzuräumen, "eine zentrale Entscheidung wollen wir nicht. ... Ich habe große Bedenken bei 'Vereinigten Staaten von Europa'. Das entspricht nicht der europäischen Tradition." Dabei sieht Verheugen die Welt auf eine "multipolare" Machtverteilung zugehen, die Kompetenzen werden in "Peking, Delhi, Brasilia, Washington" liegen und da müsse sich Europa entscheiden: "Reden wir mit? Entscheiden die anderen über uns oder entscheiden wir selber?" Für ihn ist klar, kein Nationalstaat in Europa "kann die Interessen seiner Bürger angemessen vertreten", im neuen Machtgefüge könne nur ein politisch geeintes Europa mitreden.

Und da werde 2012 wohl ein Jahr der Entscheidungen: Ob die EU zu mehr Integration kommt, und zwar mit allen Staaten, oder ob es ein "Kerneuropa" und "zumindest ein Land, das an den Rand gedrängt wird" geben wird, so Verheugen unter Verweis darauf, dass die Briten nicht am Fiskalpakt teilnehmen. Der Deutsche sieht auch die dominante Rolle Deutschlands und Frankreichs sehr kritisch. Gebe es Probleme, träfen sich derzeit die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy, "Küsschen links, Küsschen rechts und dann wird der Öffentlichkeit mitgeteilt, was Europa zu tun hat".

Verheugen bleibt aber optimistisch, dass die EU einen Ausweg finden wird. "Wir haben schon viele Krisen erlebt in Europa. Ich kenne das ja gar nicht anders." Letztlich werde Europa zu Wachstum zurückfinden. Und man dürfe nicht vergessen: "Wir haben niemanden, der raus will und viele die reinwollen." Bei allen Problemen habe es Europa geschafft, eine funktionierende Solidargemeinschaft auf die Beine zu stellen - sonst sei das noch nirgendwo gelungen.

Finanz- sticht Realwirtschaft

Ganz klar verwies der SPD-Politiker in seiner Rede auch darauf, dass die Finanzwirtschaft weiter das Geschehen dominiere. Das globale Bruttoinlandsprodukt (BIP) habe sich von 1990 bis 2010 von 22 Billionen Dollar auf 63 Billionen Dollar (48,8 Billionen Euro) verdreifacht, die außerbörslich gehandelten Derivate seien im gleichen Zeitraum von 2 Billionen Dollar auf 601 Billionen Dollar explodiert und machten daher auch nach der Lehman-Krise von 2008 das Zehnfache der Realwirtschaft aus. Auch das Volumen der gehandelten Aktien und Anleihen stieg in diesen zwanzig Jahren von neun auf 87 Billionen Dollar und lag damit weit über dem Wert der Realwirtschaft. "Die weltweite Spekulation mit vergifteten Wertpapieren geht weiter" diagnostiziert Verheugen, die Stabilisierungsversuche seien gescheitert. Der neue EU-Vertrag von Lissabon "hat möglicherweise mehr Probleme geschaffen als gelöst", die hochgelobten G-20 sei wirkungslos geblieben. (APA)