Persönliche Anmerkungen zu einem beunruhigenden Trend in den transatlantischen Beziehungen: der - trotz Obama - anhaltenden Neigung der US-Politik zur Bevormundung.

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Ich habe niemals eine amerikanische Flagge verbrannt. Ich werde es niemals tun. Ich habe niemals gejohlt, wenn andere eine amerikanische Flagge verbrannten. Nun wurde in Wien ja eher selten eine amerikanische Flagge verbrannt, ich habe aber auch niemals innerlich mitgejohlt, wenn man im Fernsehen sehen konnte, und das war oft der Fall, wie irgendwo eine amerikanische Flagge verbrannt wurde. Sondern es hat mir dabei jedesmal gegraust.

Der Grund meines Unbehagens bei der Verbrennung amerikanischer Flaggen ist, abgesehen von meiner generellen tiefen Abneigung gegen solche Szenen, die Sympathie für Amerika, die ich seit der frühen Nachkriegszeit habe. Ich kenne und schätze nicht nur die liebenswerten Eigenschaften der Amerikaner, wenn man ihnen in Amerika begegnet. Ich verdanke Amerika viel. Es waren die westlichen Besatzungsmächte, die uns in der Nachkriegszeit das seit 1938 verriegelte Fenster in die Welt öffneten. Ohne dieses Fenster wären wir verkümmert. Österreich nach 1945 war für einen sich nach Kunst und kultureller Weite sehnenden jungen Menschen keine sehr fruchtbare Landschaft. Das war die positive Seite der Besatzungszeit, über die kaum mehr jemand redet.

Die Amerikaner verfügten über die größten Mittel für ihre Informations- und Kulturarbeit. Und sie hatten die größte Bibliothek. Dort konnte man bis 1953 auch die österreichische und deutsche Literatur lesen, die in der NS-Zeit verboten gewesen war, von Franz Werfel über Erich Maria Remarque bis Stefan Zweig.

Die ganze Welt ...

Wo ist dieses mein Amerika geblieben? Es hatte sich freilich auch bereits zwischen dem Aufreißen der Fenster im Jahre 1945 und dem Besuch einiger Herren aus dem Umfeld des sehr weit rechts stehenden Abgeordneten McCarthy in Wien im Frühjahr 1953 ziemlich verändert. Nach dem Besuch dieser Herren gab es im amerikanischen Leseraum nur noch amerikanische Literatur.

Das heutige Amerika bereitet mir Sorge. Ich kann die antiamerikanischen Aggressionen in vielen Ländern nachvollziehen. Ja, sie werden mit allen Mitteln künstlich angeheizt. Aber die Amerikaner bieten den Heizern genug Anlässe. Sie haben eine ausgeprägte Tendenz, andere Völker zu bevormunden. Möglicherweise ist ihnen dies nicht einmal bewusst, sondern sie betrachten bloß in aller Naivität die ganze Welt als ihr Polizeirevier.

Anlass dieser Betrachtung ist die 24-stündige Abschaltung der englischen Original-Wikipedia als Protest gegen SOPA und PIPA, zwei unausgegorene Gesetze zum Schutz amerikanischer Urheberrechte. Sie sehen vor, dass der bloße Verdacht eines Verstoßes genügen soll, um Internetseiten und mit ihnen verlinkte weitere Internetseiten ohne richterlichen Beschluss zu sperren. Die Folgen würden weltweit wirksam. Vielleicht haben die Initiatoren an das kürzlich von Präsident Obama unterschriebene Gesetz gedacht, wonach der bloße Terrorismus-Verdacht auch der Army das Recht gibt, Personen ohne richterliche Anhörung beliebig lange in Haft zu halten.

Möglicherweise werden SOPA und PIPA am 24. Jänner dank der Proteste nicht durchgehen. Vielleicht werden sie etwas retuschiert und gehen dann doch durch. Aber bei solchen Gelegenheiten fällt einem schon so manches ein:

Die iranische Mullah-Diktatur zählt gewiss zu den unsympathischsten Regimen der Welt. Man müsste schon sehr blauäugig sein, um die Uran-Anreicherung, die sie so energisch vorantreibt, für harmlos zu halten. Darüber sind sich die meisten europäischen Staaten mit den USA völlig einig. Doch jeder Staat muss selber wissen, wie er mit dieser Situation umgeht. Wenn er trotz alledem iranisches Erdöl importiert, ist es das gute Recht der USA, ihr Missfallen kundzutun. Die Weisung an die US-Banken, die Geschäftsbeziehungen zu europäischen Banken abzubrechen, wenn diese das Geld für iranische Öllieferungen überweisen, ist jedoch eine Bevormundung genau der Art, die ich meine. Und eine ziemliche Frechheit.

Mir stößt auch sauer auf, dass die Airline den US-Behörden Tage vor einer Reise in die USA meine Kreditkarten- oder Konto- und Telefonnummer, meine weiteren Reisepläne und weiß Gott was sonst noch alles bekanntgeben muss, während ich noch nie gehört habe, dass Reisende aus den USA nach Europa dem auch unterliegen. Ich habe Verständnis für Sicherheitsmaßnahmen. Aber warum besteht Europa nicht bei jeder solchen Zumutung auf strikter Gegenseitigkeit?

... ein US-Polizeirevier?

Die Antwort, die man darauf bekommt, lautet: So viele Daten könnten wir doch gar nicht verarbeiten! Dann werft sie eben weg, sage ich, löscht sie nach ein paar Tagen, aber besteht auf der Ablieferung, denn es geht ums Prinzip. Es geht um ein Minimum von europäischer Selbstachtung. Vermutlich fangen die Amerikaner mit unseren Daten auch nicht mehr an, als sie unbedingt haben zu wollen. Nicht einmal gezielte Warnungen gelangen bei ihnen ans Ziel, wie kürzlich etwa die Mitteilung eines Vaters bewies, sein Sohn führe etwas im Schilde: Der Sohn hatte ein paar Fläschchen bei sich, mit denen er ein Flugzeug in die Luft sprengen wollte, was ihm zum Glück nicht gelang. Aus lauter Beschämung ob ihres Versagens ersannen die Amateure von der CIA oder vom FBI den Fläschchen-Terror, den man jetzt auf allen Flughäfen Europas über sich ergehen lassen muss. Die dicken Flaschen aus dem Duty-Free-Shop darf man aber an Bord mitnehmen, denn das Cognac- und Whisky-Geschäft lassen sich die Flughäfen von den Flaschen in Washington natürlich nicht verderben.

Es gäbe noch viele Beispiele. Von der alles andere als uneigennützigen Einmischung amerikanischer Ratingagenturen in die europäische Politik bis zum ziemlich einseitigen Austausch von Geheimdienst- und Polizeidaten. Vom Versuch, amerikanische Rechtsnormen weltweit durchzusetzen bis zur Weigerung, das Urteil eines internationalen Gerichtshofes über einen US-Staatsbürger anzuerkennen.

Das alles hat auch mit dem klassischen Spiel zu tun: Was lässt du dir noch alles gefallen, ehe du aufschreist? - Wer sich gegen überzogene Ansprüche nicht wehrt, darf sich jedenfalls nicht wundern, wenn sie immer weiter hinauflizitiert werden. (DER STANDARD, Printausgabe, 23.1.2012)