Solomon über Boko Haram: "Im Endeffekt kann man mit solchen Leuten nicht verhandeln."

Zur Person

Hussein Solomon ist Professor für Politikwissenschaft an der University of South Africa. Seine Forschungsschwerpunkte reichen von politischen Konflikten in Afrika bis hin zu religiösem Fundamentalismus. In dem Blog "Freerad!cals" kommentiert der bekennende Muslim das politische Geschehen in Afrika.

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Der nigerianische Präsident Goodluck Jonathan (l.) kondoliert beim Emir von Kano (r.) nach den verheerenden Anschläge vom Wochenende. Kano ist das spirituelle Zentrum der muslimischen Bevölkerung.

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Aufräumarbeiten nach den Anschlägen, die mehr als 170 Menschen das Leben gekostet haben.

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Die Zeit drängt, sagt der Politologe Hussein Solomon. Nigeria habe nicht mehr viele Möglichkeiten, die islamistische Sekte Boko Haram dauerhaft zu schwächen. Seit dem Jahreswechsel halten die Anhänger der Organisation, die unter dem Slogan "Westliche Bildung ist Sünde" operiert, das Land mit zahlreichen tödlichen Anschlägen in Atem. Die Ausweitung des Konflikts auf umliegende Staaten werde nur noch eine Frage der Zeit sein, wenn die Regierung nicht bald mittels geheimdienstlicher Strategie die Gruppe zerschlage, schlägt Solomon im Interview mit derStandard.at Alarm.

derStandard.at: Allein letztes Wochenende starben in Nigeria mehr als 170 Menschen bei Anschlägen. Stürzt Boko Haram Nigeria ins Chaos?

Solomon: Derzeit sehen wir ganz klar eine Eskalation der Lage, nicht nur durch die steigende Anzahl der Angriffe, sondern durch deren Raffinesse. Früher haben die Anhänger Boko Harams nur von Motorrädern aus auf Polizisten oder Imame, die einen moderaten Islam predigen, geschossen. Heute sind sie imstande, größere Bombenanschläge gleichzeitig zu verüben. Das deutet darauf hin, dass sie mittlerweile über großes militärisches Wissen verfügen. Sie wachsen, außerdem sind sie in Kontakt mit Aqim, dem Ableger von Al-Kaida im islamischen Maghreb, und Al-Shabaab in Somalia.

Was sie ebenfalls gefährlich macht, ist – darauf hat der nigerianische Präsident Goodluck Jonathan vor kurzem hingewiesen -, dass es einige Sympathisanten Boko Harams unter den nigerianischen Politikern und im Sicherheitsapparat gibt. Das ist auch der Grund, warum es der Regierung so schwer fällt, Boko Haram nachhaltig zu schwächen.

Hinzu kommen Konflikte über die ungleiche Verteilung des Reichtums im Süden (christlich) und Norden (muslimisch) sowie die Krise rund um das Öl. Boko Haram macht sich das alles zunutze.

derStandard.at: Wie viele Mitglieder hat Boko Haram? Welche Leute sind das?

Solomon: Man geht in Schätzungen davon aus, dass Boko Haram derzeit maximal 4.500 offizielle Mitglieder hat. Viele davon sind junge, reiche Muslime. Wenn sie verhaftet werden, haben deren Eltern meistens Beziehungen zur Exekutive und können sie freikaufen. Viele davon dürften auch ehemalige Mitglieder des nigerianischen Militärs sein. Neben den tatsächlich involvierten Kämpfern gibt es eine Menge Unterstützer. Natürlich ist die Gruppe in Relation zur nigerianischen Bevölkerung, die 160 Millionen Menschen zählt, sehr klein, allerdings sind diese 4.500 sehr gut ausgebildet, vorbereitet und diszipliniert. Sie operieren schließlich in unterschiedlichen Regionen, aber das immer gleichzeitig.

derStandard.at: Warum wird Boko Haram im Diskurs immer als Sekte bezeichnet?

Solomon: Al-Kaida bezieht sich auf einen sunnitischen Islam, der als Mainstream angesehen wird. Boko Haram hingegen hat ihre Wurzeln im Wahhabismus, wie er auch in Saudi-Arabien praktiziert wird.

Man könnte auch die Frage stellen, ob das Mormonentum als Sekte zu bezeichnen ist oder zum Mainstream des Christentums gehört. Viele Christen hätten mit Zweiterem vielleicht ein Problem. Genauso hätten viele Muslime ein Problem damit, wenn Boko Haram als Teil des sunnitischen Mainstreams aufgefasst werden würde.

derStandard.at: Welche Strategie hat die Regierung, um Boko Haram zu schwächen?

Solomon: Eine völlig kontraproduktive. Nur ein Beispiel: Es gab Anschläge in Borno (Bundesstaat im Nordosten Nigerias, Anm.). Das Militär war so frustriert darüber, dass es trotz seiner Präsenz davor keine Hinweise von der Bevölkerung erhalten hatte, dass es in drei Straßen die Autos der Einwohner angezündet hat. Quasi als kollektive Strafe. Solche Aktionen spielen allerdings nur Boko Haram selbst in die Hände.

Ein großes Problem ist, dass die Sicherheitskräfte oft nicht dieselbe Sprache sprechen, demselben Stamm oder derselben Religion angehören wie die Bevölkerung, in deren Region sie patroullieren. Es gibt keine direkten Gemeinsamkeiten, deshalb werden die Sicherheitskräfte auch als Besatzer empfunden, obwohl sie ebenfalls Nigerianer sind.

derStandard.at: Gibt es also eine großflächige Unterstützung für Boko Haram durch die Bevölkerung?

Solomon: Boko Haram kann man zum Beispiel nicht mit der Hisbollah vergleichen, die sehr offen operiert. Es ist sehr schwierig, den Grad der Unterstützung zu messen, aber es gibt auf jeden Fall genug davon, sonst würden so großflächige Angriffe nicht möglich sein. Ich befürchte, wenn die Führung Nigerias weiterhin so hilflos reagiert und Boko Haram weiterhin moderate muslimische Führer tötet, wird es zumindest im Norden keine Alternative mehr geben zu Boko Haram. Die Führung Nigerias müsste jetzt wirklich schnell reagieren und Boko Haram zerschlagen – ohne dabei aber die Bevölkerung anzufeinden. Persönlich glaube ich nicht, dass sie dazu in der Lage sind. Sie bräuchten dazu auf jeden Fall Hilfe von anderen Ländern – vornehmlich im geheimdienstlichen und technologischen Bereich. Jedes Mal, wenn kommuniziert wird oder sich Mitglieder an andere Orte bewegen, ist Boko Haram theoretisch verwundbar. Nigeria kann diese Verwundbarkeit derzeit strategisch nicht nützen.

derStandard.at: Könnte es im Zuge dieses Konflikts zu einer Teilung Nigerias kommen, oder ist das völlig abwegig?

Solomon: Nigeria ist ein riesiges Land mit einer sehr heterogenen Bevölkerung. Schon vor dem Entstehen Boko Harams wurden Kirchen niedergebrannt. Es gibt große Teile der Bevölkerung, die sich selbst nicht als Nigerianer verstehen. Nigeria hatte immer schon ein Problem mit dem Zusammenhalt. Der Biafra-Krieg in den 1960er-Jahren war auch ein Resultat dessen. Deshalb ist eine Teilung eine Denkmöglichkeit. Die Gräben bestehen nicht nur zwischen Muslimen und Christen, sondern auch aufgrund von sprachlichen, kulturellen und ethnischen Unterschieden.

derStandard.at: Bisher hat Boko Haram nur in Nigeria operiert. Wie wahrscheinlich ist es, dass es in Zukunft auch Anschläge im Ausland geben wird?

Solomon: Wenn man sich die Geschichte von anderen terroristischen Bewegungen ansieht – speziell jenen mit islamistischem Hintergrund -, dann ist es durchaus wahrscheinlich. Al-Shabaab war ursprünglich auch nur in Somalia involviert. Mittlerweile hängen aber Äthiopien, Kenia, Dschibuti und Uganda mit drinnen. Es gibt auch Unterstützer Al-Shabaabs in Minnesota in den USA. Ich fürchte, dass sich – sollte die Regierung sie nicht schnellstens zerschlagen - Boko Haram wie ein Lauffeuer auf die Nachbarstaaten ausbreiten wird.

Aber gerade jetzt nach den Bombenanschlägen in Kano – das für Nigeria sehr wichtig ist, weil es das spirituelle Zentrum der Muslime ist – bezweifle ich die Erfolgsaussichten mehr denn je. Denn welche Botschaft hat Boko Haram dort dem Emir hinterlassen: Das ist unser Islam, wir übernehmen hier das Ruder und dein moderater Islam ist out.

derStandard.at: Sie sind also der Ansicht, dass die Regierung derzeit nicht imstande ist, Boko Haram in Schach zu halten. Könnte der Konflikt auch den derzeitigen Präsidenten Goodluck Jonathan zu Fall bringen?

Solomon: Das ist durchaus denkbar. Er ist ein schwacher Präsident und ist nur an die Macht gekommen, weil der vorherige Präsident Yar'Adua – ein Muslim – an einer Krankheit starb und er zu dieser Zeit Vizepräsident war. Eine weitere Gefahr könnte aber sein, dass das Militär wieder an Einfluss gewinnt. Immerhin wurde Nigeria lange Zeit von Generälen regiert. Aber auch das Militär wird nicht imstande sein, Herr über die Probleme zu werden. Wer an die Mitglieder Boko Harams herankommen will, braucht eindeutig Geheimdienste, um sie ausfindig zu machen. Alle Muslime zu verdächtigen würde nur zu weiteren Konflikten führen.

derStandard.at: Wie rekrutiert Boko Haram ihre Mitglieder?

Solomon: Der Gründer Boko Harams, Mohammed Yusuf, der mittlerweile tot ist, hat seine Gefolgschaft in seiner Islamschule rekrutiert. Ich glaube, dass das nach wie vor über Moscheen und Schulen passiert. Aber über die Strukturen der Organisation wissen wir sehr wenig. Boko Haram verwendet zwar mittlerweile das Internet, um sich zu den Anschlägen zu bekennen und die Taten zu rechtfertigen, allerdings denke ich, dass die interne Kommunikation in sehr engen Kreisen verläuft.

derStandard.at: Boko Haram bedeutet übersetzt "Westliche Bildung ist Sünde". Was fasst Boko Haram denn alles als westlich auf?

Solomon: Boko Haram verfolgt einen "Taliban-Ansatz". Sie haben zum Beispiel junge Buben erschossen, weil sie ein Fußballmatch im Fernsehen angesehen haben und das ihrer Ansicht nach als "haram" (Sünde) gilt. Ihre Ideologie ist widersprüchlich und scheinheilig: Denn einerseits wird vorgegeben, dass Frauen ihr Haar nicht zeigen dürfen und den Hijab tragen müssen. Andererseits nutzen diese Leute aber dann wieder westliche Technologien und stellen zum Beispiel ihre Videos auf YouTube.

Boko Haram will, dass die Scharia-Gesetze noch strikter ausgelegt und in allen 36 Staaten eingeführt werden, auch im christlichen Süden. Das ist natürlich nicht möglich. Im Endeffekt kann man mit solchen Leuten einfach nicht verhandeln, man muss die Gruppierung zerschlagen. Wenn aber nun die CIA Nigeria unterstützt, wüsste man auch nicht, wo es innerhalb des Sicherheitsapparats undichte Stellen gäbe, die Boko Haram dann erst wieder Informationen zuspielen. (derStandard.at, 24.1.2012)