Frank Gallagher (William H. Macy) hat sechs Kinder und eine Menge Lebenslust.

Foto: CBS/Showtime

Wien - Schamlos ist im Hause Gallagher so manches: Als Fiona, die älteste, mit ihrem Aufriss die Abwasch für den explosiven Quickie kurzerhand zweckentfremdet, fliegen Pfannen, Töpfe und Besteck scheppernd zu Boden - es muss schnell gehen: Fünf kleinere Geschwister sitzen nebenan. Dass die Vereinigung doch nicht stattfindet, liegt an der Hausglocke. An der Tür: Polizei. Entschuldigung, sagt der Cop, und lädt Vater Frank ab. Der kann nicht einmal mehr lallen, so besoffen ist er. Wieder einmal. Die Mutter, die derlei Zustände missbilligen könnte, gibt es nicht: Sie ist längst über alle Berge.

Welche Schwierigkeiten auf Heranwachsende zukommen, wenn herkömmliche Erziehungsinstanzen ausfallen, zeigt die US-Serie "Shameless" (montags auf Fox im Angebot von Sky und auf DVD) in gebotener Rauheit. Als Selbsterzieher sind die Kinder einmal mehr, dann wieder weniger erfolgreich. Der nach außen hin völlig dysfunktionale Familienverband hat aber durchaus seine Qualitäten: Man strauchelt, fällt, aber dann ist doch immer jemand da, der einem aufhilft. Ihre tolldreisten Abenteuer erleben die chaotischen Gallaghers nach britischem Vorbild. Dort läuft die Serie seit 2004. Die Gallaghers führen dort ihren urbanen Überlebenskampf in Manchester. In der US-Version siedelt die Unterschichtfamilie irgendwo in einem der deprimierenden Arbeiterbezirke Chicagos. Ursprünglich im Plan des renommierten Abosenders HBO übernahm die Adaptierung schließlich doch Showtime. Produzent und Showrunner ist John Wells, der mit Serien wie "Emergency Room" und "The West Wing" beste Referenzen aufweist. Mit "Shameless" setzt er auf die Balance zwischen Tragödie und Komödie. Die Originalversion schrieb Paul Abbott.

Misslungene Nachhilfe

Die Mitglieder der Familie, das sind jene, die man im televisionären Zeitalter am ehesten im Reality-TV sieht: Wenn "Die Supernanny" kommt, weil alle sich nur noch anbrüllen und nur noch nach Fürsorge und Pflegefamilie schreien. Bemühungen, ein "ordentliches" Leben zu führen, werden ihnen aber auch wirklich nicht leicht gemacht. Schließlich sind die Nachbarn nicht minder schamlos und laden damit zur Selbstfindung geradezu ein. Was man macht, wenn die Nachhilfeschülerin statt an Physik mehr an biologischem Anwendungsunterricht interessiert ist? Ganz klar, man nützt diesen Umstand und bringt das nächste Mal den Bruder mit. Dieser ist auf der Suche nach seiner sexuellen Orientierung und braucht den Förderunterricht nach Ansicht des älteren Bruders dringend.

Das Genre der Familienserie scheint mit "Shameless" sowohl formal als auch dramaturgisch am Endpunkt angelangt. Nie war innerfamiliärer Zusammenhalt kaputter als in dieser Fernsehkonstellation. Wir erinnern uns:

Was an traditionellen Familienwerten lieb und teuer war, vermittelten ab Mitte der 1970er-Jahre "Die Waltons". Für mehr Erstickungsanfälle wegen zu großer Nähe sorgte in den 1980ern unter anderem Bill Cosby. Stilbildende Erleichterung brachte Wohlstandsverliererin "Roseanne". In Zeiten der Hochkonjunktur blühten Serien rund um reiche, schicke und sich fortschrittlich gebende Familien: In "Dirty Sexy Money" feierten Donald Sutherland ("M.A.S.H.") und William Baldwin ("Flatliners") keine Kindergeburtstage. Durchbrochen wurde der biedere Grundton selten, etwa von "The Riches": Eine Betrügerfamilie, die sich im spießigen Mittelstand ansiedelt.

Die Wendungen in "Shameless" würde ihnen allen Schamesrote bescheren. Wobei es selbst in diesem chaotischen Umfeld an größtmöglicher Herzenswärme nicht fehlt: Der betrunkene Vater erhält ein sanftes Kissen unter den Kopf. Nacht, Dad. (Doris Priesching/DER STANDARD, Printausgabe, 24.1.2012)