In der Neurorehabilitation verbessern kleine Erfolgserlebnisse die Lebensqualität der Patienten massiv.

Foto: Klinik Pirawarth

Mit Hilfe von Ergotherapie lernen Schlaganfallpatienten wieder Gehen.

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Andreas Winkler kritisiert zu niedrige Tagessätze für Patienten in Neurorehab-Kliniken.

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Alleine in Wien fehlen laut Experten hundert Phase-B-Betten. Für die schweren C- und D-Patienten würde ein höheren Tagessatz benötigt, als das jetzt der Fall ist.

Grafik: Kurhotel Bad Pirawarth GmbH

Den Löffel beim Essen selber zu halten ist für Schlaganfallpatienten ein Erfolgserlebnis. Damit die Menschen so viel Selbstbestimmung und Aktivität im Leben wie möglich behalten, ist es notwendig, dass sie so rasch wie möglich gefördert werden. Oftmals bewahre sie die Neurorehabitilation vor dem Pflegeheim, weiß Andreas Winkler, Neurologe und Geriater an der Klinik Pirawarth in Niederösterreich. Der Mediziner übt harsche Kritik an der derzeitigen Praxis, wie mit den Bedürfnissen kranker Menschen umgegangen wird.

derStandard.at: Wer bekommt in Österreich Neurorehabilitation und wer nicht?

Winkler: Hat jemand einen Schlaganfall oder Parkinson und hat das Pech, Pensionist zu sein, hat er gar keinen Rechtsanspruch auf Rehab. Wer berufstätig ist, hingegen schon. So passiert es, dass vor allem Menschen mit chronischen neurologischen Erkrankungen Rehab immer häufiger nicht bewilligt wird. In Zeiten der knappen Kassen gibt es häufiger Ablehnung, obwohl Patienten dadurch zum Pflegefall werden oder im Rollstuhl landen.

derStandard.at: Welche Besonderheiten weisen Neurorehab-Patienten auf?

Winkler: Wir haben die komplexesten Patienten. Sowohl aus Sicht der körperlichen als auch der psychischen und neurologischen Leiden. Die Patienten haben Schluck- und Sprachstörungen, wo das Gehirn betroffen ist. Aber auch Denk-, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen. Diese Patienten sind extrem aufwendig und häufig pflegebedürftig. Das Problem: Wir können uns diese schweren Patienten heute kaum mehr leisten, sie brauchen Pflege, Ärzte und Medikamente rund um die Uhr und pro Tag mindestens zwei bis drei Stunden Therapie.

An und für sich müssten die Krankenkassen bezahlen, aber die haben das an die Pensionsversicherungsanstalt abgegeben. 75 Prozent wickelt die PVA ab, den Rest die SVA und andere Betriebskrankenkassen. Damit wird Neurorehab zu einer freiwilligen Leistung.

derStandard.at: Welche Erkrankungen werden in der Neurorehabilitation behandelt?

Winkler: Die Hälfte sind Schlaganfälle. Häufig sind auch Parkinson, Multiple Sklerose oder entzündliche Erkrankungen des Rückenmarks. Die Patienten können häufig nicht mehr gehen, haben Schmerzen und neurologische Ausfälle. Auch Epilepsie gehört zu den Krankheitsbildern. Immer mehr kommen auch durchblutungsbedingte Hirnleistungsstörungen und beginnende Demenzerkrankungen dazu. Auch Querschnitts- und Tumorpatienten kommen zu uns, gelegentlich auch Kinder. 

derStandard.at: Beobachten Sie insgesamt einen Trend in der Anzahl und Schwere der Fälle?

Winkler: Ja. Betroffene erleben einen Schlaganfall heute später, sind dann aber multimorbid, haben also gleichzeitig mehrere Erkrankungen. Das macht das Management schwieriger. 

derStandard.at: Wie lange bleiben die Patienten durchschnittlich?

Winkler: Ältere und multimorbide Menschen profitieren besonders von der Rehab. Gute vier bis acht Wochen sind notwendig, um sie wieder so zu stabilisieren, dass wir eine Pflegebedürftigkeit entweder minimieren oder sogar verhindern können. Neurorehab ist das letzte Bollwerk vor der Pflege.

derStandard.at: Wann hat ein Patient in der Rehab wieder eine gewisse Lebensqualität erreicht?

Winkler: Das ist individuell sehr unterschiedlich und hängt großteils auch vom Schweregrad der Erkrankung ab. Wir können nicht immer heilen, aber immer helfen: Pflegebedürftigkeit so zu minimieren, dass Menschen mit Unterstützung zu Hause weiterleben können.

derStandard.at: Kann sich bei neurologischen Erkrankungen wie Schlaganfall auch die Persönlichkeit verändern?

Winkler: Ja, das passiert nahezu regelmäßig. Ein typisches Beispiel ist die Depression. Über 50 Prozent haben eine Post-Stroke-Depression. Das verändert Menschen massiv, vom Antrieb und von der Befindlichkeit her. Oder sie haben schwere Gedächtnisstörungen. Das heißt, sie können sich kaum mehr etwas merken, kaum am Sozialleben teilnehmen. Sie sind gehemmt und sozial nicht mehr so angepasst. Viele Probleme und auch die Lebensqualität ergeben sich nicht nur aus der körperlichen Stigmatisierung durch ein gelähmtes Gesicht oder Bein, sondern auch durch die psychologische Stigmatisierung. 

derStandard.at: Wie helfen Sie den Menschen, damit umzugehen, dass sie ein Handicap haben?

Winkler: In der Rehab müssen wir den ganzen Menschen sehen. Wir versuchen einerseits, die körperlichen Funktionsdefizite auszugleichen. Es ist ein Erfolgserlebnis, wenn Patienten wieder selbst den Löffel in die Hand nehmen können und nicht gefüttert werden müssen. Auch die Aktivität der Patienten wird gestärkt. Die Teilhabe am sozialen Leben wird durch Ergotherapeuten, Sozialarbeiter und Psychologen gefördert. Wir haben auch Trainingsküchen, in denen Patienten wieder kochen lernen. Mit Kunsttherapie versuchen wir, seelisch einen neuen Zugang zu bekommen.

derStandard.at: Welche Rolle spielt die sogenannte Neurogenese beim Heilungsprozess?

Winkler: Heute wissen wir, dass täglich tausende neue Nervenzellen gebildet werden. Man braucht aber Reize, Input und Training, um diesen Zellen eine Funktion zu geben. Bei Menschen mittleren Alters wissen wir, dass das funktioniert. Die Frage ist aber, inwieweit das bei 80- oder 90-Jährigen klinisch relevant ist. 

Bei Schlaganfällen gibt es in den ersten drei bis sechs Monaten eine Spontanremission, das Gehirn erholt sich von alleine. Aber besonders im ersten Jahr ist es wichtig, dass das Gehirn richtig lernt. So kann man auch negative Folgen wie Spastik vermindern. Das hat aber mit Neurogenese weniger zu tun als damit, das Hirn zu beschäftigen. Deswegen ist es schlimm, wenn ein Schlaganfallpatient wochenlang in einer Akutklinik herumliegt, weil für ihn kein Bett frei ist. Er verliert dann zu viel Zeit.

derStandard.at: Was schlagen Sie vor? Wo muss man im Gesundheitssystem ansetzen, um das Problem zu lösen?

Winkler: Wir brauchen mehr Betten für Patienten kurz nach der Akutphase. Derzeit ist die Situation so, dass diese Patienten auf den Stationen liegen oder gleich in die Pflegeheime kommen. Der Rückstau in die Akutspitäler wird immer stärker. Der Mischtagessatz müsste in den Rehakliniken um fünf bis zehn Prozent angehoben werden. Dann könnten wir schon einmal insgesamt mehr Patienten aufnehmen. Aber für die ganz schweren Fälle bräuchten wir sogar 50 Prozent mehr. (Marietta Türk, derStandard.at, 30.1.2012)