Brody/Wien - Brody ist mit heute 24.000 Einwohnern etwa so groß wie Leoben oder Krems. Vor knapp 200 Jahren war es mit rund 20.000 Bewohnern deutlich größer als Linz, Salzburg oder Innsbruck. Brody entspricht also so gar nicht der typischen, von einer rasanten Urbanisierung gekennzeichneten Stadtentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert.
Dabei hatte alles so gut begonnen. Als die Habsburger im Zuge der ersten Teilung Polens 1772 Galizien annektierten, nahmen sie auch Brody in Besitz, das fortan rund 150 Jahre lang die nordöstlichste Grenzstadt der Donaumonarchie bleiben sollte. Zu diesem Zeitpunkt war Brody bereits die wichtigste Handelsstadt Ostmitteleuropas. Dank eines kaiserlichen Freihandelsprivilegs konnte es seinen herausragenden Status bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts wahren. Dass der Großteil der gehandelten Güter aus Schmuggelware bestand, war ein offenes Geheimnis, aber die österreichischen und russischen Grenzbeamten drückten beide Augen zu oder ließen sich bestechen.
Der Schmuggel ist eines der großen Themen, die Brody anhaften - nicht zuletzt durch die Romane Joseph Roths. Im deutschsprachigen Raum ist er sicherlich der bekannteste Sohn der Stadt und erweist in seinem Werk seinem Geburtsort Reverenz, indem er Brody als Blaupause seiner fiktiven Grenzstädtchen verwendet, etwa für die namenlose Garnisonsstadt im "Radetzkymarsch" oder Zlotogrod im "Falschen Gewicht". Roth verfremdet jedoch das historische Bild Brodys, denn jahrhundertelang war diese Stadt keineswegs verlorener Außenposten, sondern maßgebliche Drehscheibe zwischen Ost und West.
Auch Roths Wahrnehmung der jüdischen Bevölkerung wirkt verzerrt, wenn er Brody als Inbegriff eines Schtetls beschreibt. Brody war mit mehr als zwei Dritteln Juden zwar Österreich-Ungarns jüdischste Stadt, besaß aber eine ökonomisch, politisch und gesellschaftlich gut vernetzte jüdische Oberschicht, die ganz und gar nicht unseren dunklen, beengten Schtetlbildern entspricht.
Nichts ist mehr, wie es war
Nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie 1918 fiel Brody, so wie das gesamte ehemalige Kronland Galizien, an das neuerstandene Polen. Vom Ersten Weltkrieg durchaus in Mitleidenschaft gezogen, wurde das alte Brody im Zweiten Weltkrieg endgültig zerstört. Infolge des Hitler-Stalin-Pakts annektierte die UdSSR die Stadt und begann eine brutale Sowjetisierung des städtischen Lebens und die Deportation unliebsamer Bürger nach Sibirien.
Mit der Besetzung Brodys durch Nazideutschland im Juli 1941 begann die Verfolgung der noch rund 9000 in der Stadt lebenden Juden. Es folgten Erschießungen, Ghettoisierung und der Weg in die Vernichtungslager. Nur knapp 200 Brodyer Juden überlebten die Shoah in Verstecken oder bei den Partisanen in den umliegenden Wäldern. Nach der Rückereroberung Brodys 1944 durch die Rote Armee wurde die polnische Bevölkerung vertrieben, sodass die Stadt am Ende des Zweiten Weltkriegs großteils entvölkert war.
Erst durch den Zuzug ukrainischer Bauern aus dem Umland kam langsam wieder Leben nach Brody. Einige Industriebetriebe wurden in der Stadt angesiedelt, der Südstrang der Erdölleitung Druschba (auch heute noch der wichtigste Arbeitgeber) hier verlegt. Darüber hinaus wurde Brody ein Luftwaffenstützpunkt der Roten Armee. In den 1970er-Jahren waren schließlich die Sümpfe in und um die Stadt trockengelegt und weitere Wohnblöcke errichtet - die Aufstellung eines Lenindenkmals machte Brody schließlich zu einer typisch sowjetischen Kleinstadt.
Die Unabhängigkeit der Ukraine im Dezember 1991 brachte auch in Brody einen neuen Wind. Die sowjetischen Straßennamen wurden ersetzt, Lenin demontiert und dafür ein Denkmal für die Opfer der bolschewistischen Repression errichtet; am zentralen Ringplatz wurde das beinahe obligatorische Denkmal für den ukrainischen Nationaldichter Taras Schewtschenko aufgestellt. Auch die bis dahin als Lagerhallen dienenden Kirchen wurden wieder geöffnet - nur die Synagogenruine verfällt weiter, weil es in Brody keinen einzigen Juden mehr gibt.
Erinnerung ist in Brody eine schwierige Sache. Es sind die widersprüchlichen Erinnerungen von Ukrainern, Polen, Österreichern und Juden, die hier konfliktreich aufeinandertreffen. Jede Gruppe erzählt ihre eigene Geschichte und interessiert sich für ihre eigenen Gedächtnisorte, und manchmal hat man das Gefühl, sie sprechen von ganz unterschiedlichen Städten.
Man kann sich mit der Stadtbeschreibung in Roths Radetzkymarsch vom Brodyer Bahnhof ins Stadtzentrum aufmachen, die Goldgasse entlanggehen und wird einige der genannten Gebäude identifizieren können. Oder sich zum ehemaligen Grenzübergang zwischen Österreich und Russland begeben - ein Nichtort, an dem einem nolens volens Gedanken und Bilder über das räumliche und zeitliche Ende Kakaniens kommen. Habsburg-Nostalgiker sind vom heutigen Brody wahrscheinlich enttäuscht, Spurensucher, Abenteurer und Neugierige hingegen erleben eine spannende Reise durch Geschichte und Gegenwart Ostmitteleuropas. (Börries Kuzmany, DER STANDARD, Printausgabe, 24.1.2012)