Alte Frauen leiden unter einem Libidoverlust, alte Männer unter zunehmender Impotenz. Diese weit verbreitete Meinung hat das Bild des asexuellen alten Menschen geprägt. Sex im Alter ist eine Tabuzone, und das, obwohl demografische Prognosen die Präsenz des Themas laufend erhöhen. Die Zukunft wird eine regelrechte Überalterung der Gesellschaft mit sich bringen. Auf die sexuellen Bedürfnisse alter Menschen einzugehen wird damit unumgänglich. Das 4. Interdisziplinäre I.S.T. Symposium zum Thema "Intimität - Sexualität - Tabuisierung im Alter" nimmt sich des Themas am Donnerstag im Wiener Billrothhaus an.

Frauen wird es derzeit noch besonders schwer gemacht. "Jede Frau ab 30 versucht zu verhindern, dass sie Falten bekommt. Männer dagegen glauben, dass sie im Alter noch an Attraktivität gewinnen", sagt Doris Bach, Klinische, Gesundheits- und Gerontopsychologin und Psychotherapeutin in Wien. Mit der späten Vaterschaft stellen Männer immer häufiger ihre nie versiegende Potenz unter Beweis, während das schwindende sexuelle Verlangen der Frauen hartnäckig mit dem Ende der Fortpflanzungsfähigkeit nach dem Klimakterium in Zusammenhang gebracht wird.

Austausch von Zärtlichkeit

Physiologisch betrachtet scheint es, als seien weder Männer noch Frauen dazu geschaffen, Sexualität im Alter zu leben. Der sinkende Östrogenspiegel bei Frauen führt dazu, dass die Vaginalschleimhaut trocken und der Geschlechtsverkehr zu einem schmerzhaften Unterfangen wird. Dem fallenden Testosteronspiegel ist zu verdanken, dass Männer weniger schnell und oft nur kurzfristig Erektionen entwickeln. "Gefühle altern nicht", konstatiert Bach und will den Menschen nicht auf seine Genitalität reduziert wissen. "Im Alter geht es nicht mehr um den Koitus per se. Vielmehr gewinnt der Austausch von Zärtlichkeit immer mehr an Bedeutung."

Während die Jugend das Thema Alterssexualität nach wie vor ignoriert, setzen sich viele alte Menschen diesbezüglich auch selbst unter Druck. "Moderne Menschen wollen alt werden, aber nicht alt sein", betont Bach und ortet das Problem in der mangelnden Fähigkeit, Veränderungen des eigenen Körpers anzunehmen. Das genussvolle Erleben von Sexualität wird dadurch im Alter erheblich erschwert.

Kein Raum für Sexualität

Besonders brisant ist das Thema in Pflege- und Altersheimen, wo der Mangel an Intimität lange Zeit von vornherein keinen Raum für Sexualität zugelassen hat. "Derzeit gibt es hier einen Umdenkprozess. Gerade im Bereich der Demenzbetreuung gehen wir vom alten Begriff der Verhaltensauffälligkeiten und -störungen ab in Richtung herausforderndes Verhalten und Bedürfnisse", so Gerald Gatterer, Leiter der Psychologisch-Psychotherapeutischen Ambulanz im Geriatriezentrum Am Wienerwald.

Mit dieser neuen Betreuungsphilosophie sei es auch leichter geworden, das Thema Sexualität in Pflegekonzepte zu integrieren. Dieser Trendwende pflichtet auch Bach bei: "Intimität und Raumgeben sind auch in Pflegeheimen und Langzeitinstitutionen ganz wichtige Punkte geworden." Abwarten, anklopfen oder das Aufstellen von Paravents in der Pflege stellen diese Bedürfnisse sicher und schaffen die Voraussetzungen für gelebte Intimität und eventuell auch Sexualität.

Neu erwachte Bedürfnisse

Im Bereich der Demenz, die wie das bloße Altern auch kein Ausschlussgrund für Sexualität ist, tun sich noch andere Probleme auf. "Kontrollfunktionen gehen im Rahmen der Demenz manchmal verloren. Damit kommt es auch zu überschießenden oder neu erwachten sexuellen Verhaltensweisen", so Gatterer. Für den gesunden Partner kann der Umgang mit der neu entstandenen Sexualität schwierig sein. Das plötzliche Bedürfnis nach mehr Nähe, Geborgenheit und Zärtlichkeit schafft Potenzial für Konflikte. Bei vielen Männern erzeugt Sex mit der dementen Partnerin zudem Schuldgefühle. "Auch ohne Sprache ist es demenzkranken Personen möglich, Rückmeldung und Signale zu geben, aus denen sich auf sexuelle Bedürfnisse schließen lässt", rät Gatterer den Angehörigen gegebenenfalls zu mehr Empathie. 

Die größte Herausforderung ortet der Psychologe im Bereich der Selbstbefriedigung. "Erstens gibt es einen Mangel an Männern, und zweitens geht oft das Mann-Frau-Wahrnehmungsverhältnis verloren. Das heißt, Sexualität wird zwar wahrgenommen, damit ist aber nicht zwangsläufig auch die Partnersuche verbunden." Im Geriatriezentrum Wienerwald wird in jedem Fall versucht, den sexuellen Bedürfnissen der Betroffenen Rechnung zu tragen und in Zusammenarbeit mit Psychologen gemeinsame Lösungen zu suchen.

In einigen österreichischen Pflegeheimen unterstützen mittlerweile Sexualbegleiter alte beziehungsweise demente Menschen dabei, sich sexuell zu emanzipieren. Diese Berufssparte ist speziell dazu ausgebildet, mit Handicaps umzugehen und mit Zuwendung und Nähe den Betroffenen in einem geschützten Rahmen zu mehr Wohlbefinden und Lebensqualität zu verhelfen. (Regina Philipp, derStandard.at, 22.3.2012)