Man kann es rückblickend gut verstehen, dass der US-Kandidat Mitt Romney so lange gezögert hat, seine Steuererklärung zu veröffentlichen. Dass der Multimillionär nur 14 Prozent seines Einkommens an den Fiskus abliefert, ist für seine republikanischen Parteifreunde kaum ein Problem; schließlich sind niedrige Steuern für Reiche ein Kernstück ihres Programms. Aber für Präsident Barack Obama ist es ein gefundenes Fressen. An Romney - immer noch sein wahrscheinlichster Gegenkandidat - kann Obama hervorragend die Ungerechtigkeiten des Wirtschafts- und Steuersystems deutlich machen.

Und genau das tat der Präsident in der Nacht zum Mittwoch in seiner Ansprache zur Lage der Nation, die gleichzeitig als erste große Wahlkampfrede diente. Der Ruf nach höheren Steuern ist in den USA immer noch nicht populär; selbst wenn nur die Spitzenverdiener gemeint sind, befürchten zu viele Amerikaner, dass auch sie betroffen sein könnten. Aber ein Mann wie Romney, der sein Vermögen durch den Kauf und die Umstrukturierung (sprich Personalabbau) von Unternehmen gemacht hat, symbolisiert jenes eine Prozent der Bevölkerung, mit dem sich die meisten nun doch nicht identifizieren können. Und dass er weniger Steuern zahlt als die Sekretärin des Milliardärs und Obama-Fans Warren Buffett, die praktischerweise gleich im Publikum saß, macht eine der großen Fehlentwicklungen der US-Politik leicht begreifbar.

Romneys absurd niedrige Steuerrechnung wurde erst möglich, weil die Republikaner über die Jahre die Senkung der Kapitalertragssteuern von einst 28 auf 15 Prozent durchgesetzt haben - mit dem Argument, dass damit Unternehmertum gefördert und Arbeitsplätze geschaffen werden. Die Folge ist, dass immer mehr Spitzenverdiener wie etwa Hedgefonds-Manager ihr Einkommen fast nur noch aus Kapitalerträgen beziehen - deren Besteuerung Romneys Rivale Newt Gingrich überhaupt abschaffen will. Noch mehr als der viel zu niedrige Spitzensatz bei der Einkommenssteuer trägt das zur wachsenden Ungleichheit und den explodierenden Staatsschulden bei.

Wenn Romney die republikanischen Vorwahlen gewinnt, wird es ihm besonders schwer fallen, das radikale Anti-Steuer-Programm, das er genauso wie die anderen Kandidaten unterschrieben hat, zu vertreten. Das gibt Obama die beste Chance, eine klare Wahlkampfbotschaft für die Wirtschaft zu entwickeln. In der Außenpolitik ist Obama nach der Tötung Osama Bin Ladens, die er in seiner Rede mehrmals ansprach, ohnehin kaum angreifbar.

Aber der Appell für steuerliche Gerechtigkeit wird nur funktionieren, wenn die US-Konjunktur weiter anzieht und die Arbeitslosigkeit sinkt. Denn eine Antwort auf die schlechte Wirtschaftslage ist Obama auch in dieser Rede schuldig geblieben. Nicht dass Romney oder Gingrich bessere Rezepte vorweisen können. Aber wenn zu viele Wähler am 6. November um Job und Einkommen zittern, dann werden sie dem Amtsinhaber die Rechnung präsentieren. (DER STANDARD Printausgabe, 26.1.2012)