Grenzgänger mit großem Herzen: Jirí Grusa, Schriftsteller, PEN-Präsident, tschechischer Bildungsminister und Diplomat (1938-2011).

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Laudator Miguel Herz-Kestranek.

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Da sich eine Preisrede folgerichtig an den zu Preisenden, an den Preisträger richten soll, will ich mir jetzt vorstellen, Jiří Gruša sitzt auf dem leeren Stuhl in der ersten Reihe; neben Sabine, etwas eingesunken im Stuhl, schräg zur Seite gelehnt, die Beine weit übereinander geschlagen, den leicht geneigten Kopf in die Hand gestützt, Kinn und Lippen von den Fingern halb verdeckt, kaum sichtbar so das Lächeln, das von Fremden leicht als spöttisch gedeutet, von Vertrauten aber als zugleich scheu und verschmitzt gewusst wird; hin und wieder sich zu seiner Frau beugend und eine Bemerkung kommentierend, zunehmend jedoch da und dort kurz auflachend und mit dem Redner selbst kommunizierend, nicht böhmakelnd, aber mit unüberhörbar tschechischem Akzent, etwa: „Ja, das könnte man so sagen...!"oder: „Das ist ein guter Vergleich, den muss ich mir merken, Kollege Késtranek..."; liebevoll geführte Waffe gegen aufkommende Gerührtheit und allzu stimmiges Lob. Ich wende mich also hiemit an Jiří persönlich und wähle für das zu Sagende die Überschrift:

Der Mann mit den Buchteln.

„Jiří!" Ein Mann stürzt mit ausgestreckten Händen auf uns zu, besser gesagt auf Dich. Wir stehen inmitten eines offiziellen Empfanges in Prag, der anlässlich eines PEN Treffens stattfindet. „Jiří ..!" Der Mann umarmt Dich, umfasst Deine Hände. Er hat einen grauen Bart, ist etwa Deines Alters und trägt einen dieser schlecht sitzenden billigen Anzüge, wie sie auch nach der sogenannten Öffnung sofort als sogenannt „typisch ostisch" erkennbar sind. Seine Umarmung ist herzlich, so wie man einen lange ersehnten Heimkehrer begrüßt, etwas zu auffällig erscheint sie allerdings. Er hält Dich an beiden Händen fest und es ergießt sich ein tschechischer Wortschwall über Dich, der anscheinend gerührt nur ein paar gemurmelte Floskeln hören lässt. Ein Wiedersehen von lange getrennten Freunden denke ich, da erblickt der Mann an Dir vorbei plötzlich jemand anderen, es muss jemand Hochstehender sein, denn mit einem entschuldigenden Lächeln lässt er unvermittelt Deine Hände los und mit einer kurzen bedauernden Verabschiedung wendet er sich ab und eilt rasch zu dem Erblickten.
„Einer von denen, wegen denen ich gesessen bin", sagst Du ohne Bitterkeit und für mich wandelt sich mit einem Schlag die eben erlebte Geste zu einer infam verlogenen.

„Jiří !" Ein kleiner dicklicher Mann eilt auf Dich zu, an der Hand eine zu große und zu geschminkte jüngere Frau. „Jiří !" Auch er umarmt Dich, auch er hält Deine Hände, auch er ist über die Maßen gerührt. Er stellt Dir die Frau vor, und auch seine tschechischen Wortkaskaden sind über alle Maßen herzlich, er kann sich offensichtlich gar nicht genug freuen, Dich zu sehen. Mit einem kurzen Zwischenblick in die Runde der Honoratioren entschuldigt auch er sich unvermittelt, wenn auch mit gesellschaftlicher Routiniertheit und eilt weiter.
„Der hat mich damals noch mehr verraten", sagst Du trocken.
Tage in Prag ... im Zuhause, das verloren in jedem Fall, ob jedoch auch wiedergewonnen, das ist nach dem Diktum eines anderen Exildichters„... wie sehr man auch sein Herz verpflanze, zwei halbe Heimaten sind keine ganze..." wohl nie mehr wirklich auszumachen gewesen.
Und später mit Dir in Deiner Wohnung, angeschmiegt an die Mauern des Hradschin. Vom Wohnzimmer aus hätte sich der Prager Fenstersturz wie aus einer Loge beobachten lassen...
Und am nächsten Tag das kurze Zusammentreffen mit dem engen Weggefährten Vaclav Havel. Die Unmöglichkeit, für uns Uneingeweihte so lange danach nachzuspüren, wie es gewesen ist damals, liegt in der Luft. Ist es Zufall, dass auch er nun zwei Monate nach Dir sich für immer verabschiedet hat?
Und einen Tag später in Bratislava der kafkaesk skurille Empfang im Amtssitz des damaligen slowakischen Präsidenten. Ein goldener Empfangsaal, am unteren Ende wir, das heißt eine internationale Pen-Abordnung, von zwei mausgrauen Sekretären mit zu kurzen Hosen und Aktentaschen unter dem Arm zu einer peinlich ausgerichtenen Reihe aufgestellt wie zur allabendlichen Händewaschkontrolle im Internat. Du führst uns an, der Ehrengast. Vom oberen Ende gemessenen Ganges heranschreitend der kleine Präsident, immer noch das joviale Lächeln ins Gesicht gehängt, welches die Natur auch demokratisierter Diktatoren zu sein scheint. Eine Stunde mit Tee und Schnaps dann, plaziert rund um eine überdimensionale Staatsdinertafel, dem eitlen Geschwätz des kleinen Mannes lauschend, der heute lange Geschichte ist.
Erlebnisse, Begegnungen, alle dazu angetan, den wohl wesentlichesten, jedenfalls aber am meisten wirkenden Abschnitt Deines Lebens kommentarlos zusammenzufassen.
Und auf den Autofahrten dazwischen erzählst Du aus der Zeit, als die ungleichen Hälften der beiden Länder noch zusammengehören mussten und Deine Heimat waren. Du erzählst aus Deiner Zeit „davor". Das heißt, vor der Verhaftung, vor den Verrätern, vor dem Gefängnis, vor der Ausbürgerung; und vom Dazwischen, von den sich in der Geschichte ewig wiederholenden Gemeinheiten und besonders von den Dummheiten, von den Dummköpfen unter den Schergen und von der Zeit „danach". Die Staatenlosigkeit und die deutsche Staatsbürgerschaft und die Rückkehr und das Minister- und das Botschafteramt.

In einem ‘Faust'- Entwurf von Lessing fragt Faust : „Was ist das Schnellste auf Erden?" und Mephistopheles gibt ihm darauf zur Antwort: „Der Übergang vom Guten zum Bösen."
Das Tempo der Rückverwandlung war die Maßeinheit für Geschwindigkeit, die Du lernen, das Knacken der Wendehälse, das Geräusch, an das Du Dich gewöhnen musstest. Sodass man die Erkenntnis „Das Schnellste auf Erden ist der Übergang vom Guten zum Bösen" durchaus mit den Worten ergänzen könnte: „und wieder zurück." Und so auch schmerzhaft wachsend die Zahl jener, von denen Dich die gemeinsame Vergangenheit trennte.
„Das menschliche Leben im allgemeinen, melde gehorsamst, is so kompliziert, dass das gewöhnliche Leben dagegen a Dreck is!" wie es der von Dir geschätzte brave Soldat Schweyk auf seine Weise zusammengefasst hätte.

Und dann lernten wir einander ja schon kennen und was hierauf kam, habe ich mal mehr mal weniger miterlebt. Im Pen-Club und bei diversen illustren und weniger illustren Anlässen, oder wenn wir einander privat trafen, da und dort, etwa in Altaussee in großer Ruhe, oder wenn wir auf dem Podium saßen zum Zweier-Gespräch über diverse Themen, die wir mittlerweile so routiniert miteinander abhandelten, dass Du scherzhaft schon von einer Plauderertourneé sprachst.
Dabei hat es anfangs für mich nicht danach ausgesehen. „An Jiří haben sich schon so manche gewiefte Journalisten die Zähne ausgebissen", tröstet Sabine einmal nach einem solchen Podiumsgespräch. Und die wilden gedanklichen Bocksprünge, die Sprunghaftigkeiten, denen man als Dein Gesprächspartner ausgesetzt war, sie waren auch wirklich kaum zu bewältigen. Immer voraus waren sie nicht einzufangen deine Gedanken, es war auch nicht die geringste Linie in ein Gespräch zu bringen. Mehrbödiger Humor und beneidenswert vorlaute Schlagfertigkeit wetteiferten mit der Rasanz eines kritischen Geistes, der sich auch die mindeste Zurückzuhaltung verbat. Die freche Hornisse aus Pardubice, wie Dich einmal einer genannt hat, surrte hin und her.
Diese überfrachtbare Phantasie, literarisch von Dir selbst und wer weiß von welchen Lektoren ein wenig gezähmt, ist Merkmal aber auch Deiner Bücher und war wesentlicher Bestandteil Deiner Reden oder Vorträge.
Im Gespräch aber mindestens zwei Themen, fünf Fragen voraus, kaum etwas beantwortend, oft nicht einmal auf das Motto des Abends eingehend. Man kam sich vor wie in einer Verfolgungsjagd in einem Stummfilm, in dem der Held aber zumindest bei der Türe herausläuft, bei welcher der Polizist steht, um dann wieder wegzulaufen. Du aber kamst jedes Mal aus einer anderen thematischen Türe heraus, als aus der, in die wir gemeinsam hineingegangen waren. Danach dann ein Brief, in welchem Du mir in der Erkenntnis, über das vorgehabte Thema kaum gesprochen zu haben ein neues Gespräch anbotest.
Bis ich mich endlich, nun meist zur vollkommenen Ratlosgkeit der Zuhörer, zur gleichen unorthodoxen Gesprächsführung entschloss, und Dein überraschtes Gesicht und darin die kleine Anerkennung darüber, dass Held und Polizist jetzt einander sozusagen mit abgesperrtem Fluchtweg gegenüberstanden, und wenn mir darüber hinaus ein Wortspiel gelang, das Dir gefiel, hat uns immer stärker zum Team gemacht und Deinen Vorschlag evoziert, auf Podiumstourneé zu gehen.

Und nun stehe ich hier als Laudator, als der Du Dir mich für diesen Anlass gewünscht hast als Du noch darauf wartestet, dass er stattfinden würde, und fühle mich vom zu Ehrenden im Voraus selbst geehrt. Und wenn Manès Sperber, in dessen Namen Dir im letzten Frühjahr der Preis für hervorragende literarische Leistungen zuerkannt wurde, schreibt Jede Beziehung zwischen Menschen wirkt erzieherisch, eine unvermeidliche, aber selten ausgewogene Gegenseitigkeit, dann formt sich alles mit Dir Erlebte, das an mir vorbeizieht, und das ich als nimmermüder, wenn auch als in überraschend vielem mit Dir verbundener Schüler erfahren habe - sei es auf Grund meiner tschechischen Vorfahren, die in einem Teil meines Namens weiterleben, oder der Kuriosität wegen, dass wir beide zwei jeweils zur gleichen Zeit wirkende Bischöfe auf unserer Ahnentafel vermerken können, sei es das schmerzliche Erleben Exil, das, wenn auch aus zweiter Hand, so doch auch zu meinem Lebensthema geworden ist, oder sei es unser beider unerschütterlicher Glaube an das größte freiwillige Demokratie- und Friedensprojekt der Geschichte, dessen Utopie schon Jahrhunderte in einem Kontinent geträumt wird, dessen Grenzen bis hin zur kleinsten mit Blut gezogen wurden, und unser beider Hoffnung, diese Vision Europa, möge nicht zu einer gescheiterten Utopie werden; sei es die Hingabe an das Wort, das uns alle bindet, sei es die Liebe zur Poesie und die Lust am Wortwitz, oder die Vieleseitigen unzuträgliche Verweigerung jeder Schubladisierung - all das formt sich mir mit einem Mal zur beglückenden wie lehrreichen Freundschaft zwischen uns, die zu behaupten ich mir nie angemaßt hätte.
Vielleicht aber habe ich jene Grenze öfter als andere überschritten, oder überschreiten dürfen, bis zu welcher Du scheinbar die Einlassung in Deine Person zulassen wolltest. Vielleicht habe ich mehr erfahren über Dich, weil ich gespürt habe, dass die Grenzbalken für den, der genauer hinsehen wollte, in Wahrheit weit offen standen - ein Teil jener Tarnung, wie sie auch Kennzeichen Deines Werkes ist, das untrennbar von Deinem Sein und Wirken steht und das heute ofiziell geehrt wird.

Dass Dir dafür ein Preis für hervorragende literarische Leistung zugesprochen wurde, mag Dich befriedigt haben, ich sehe Dein Lächeln vor mir, und ich höre Deine geschliffene selbstironische Bemerkung dazu. Dass dieser Preis jedoch nach Manès Sperber benannt ist, das allerdings wirst Du ernst genommen haben. Verbindet Euch doch mehr, als nur die Qualität des Geschriebenen, wart ihr doch beide Grenzgänger, beide im Doppelsinn des Wortes, beide freiwillig und unfreiwillig zugleich, beide in Biographie und Werk. Er, der Jude aus dem ostgalizischen Schtetl, Du der Böhme aus Pardubice und wie als Menetekel geboren in der Kristallnacht 1938. Und verbunden beide auch durch das Schicksal des Exils, das immer mehr zum prototypischen Schicksal der Gegenwart wird.
Deshalb möge das Folgende begleitet sein von Zitaten von Manès Sperber und von Dir, Zeugnis abzulegen für eure geistige Verbundenheit, stehen sie doch für sein, wie für Dein Werk gleichermaßen.

Wir alle sind auf Toleranz angewiesen postuliert etwa Sperber, und haben sie zu gewähren, weil niemand immer recht hat.
Ließe sich dieser Satz nicht geradewegs als Motto über Dein Werk wie über Dein Leben stellen, welches Du in der Überzeugung geführt hast: Die menschliche Zusammengehörigkeit basiert nicht auf Ansichten, sondern auf Charakter?
Und ist nicht Sperbers Spruch geradezu als Ergänzung anzusehen, wenn er formuliert: Das sicherste Unterpfand unserer Menschlichkeit bleibt der Mut zur Unvollkommenheit und weiter: Ich machte die Erfahrung, dass die besten Ideen für ein anderes Zusammenleben nichts taugen, wenn nicht die Reflexion unserer persönlichen Geschichte, unserer Stärken und Schwächen miteinbezogen wird.
Und so fehlt bei Euch beiden nie das Bekenntnis zu den Brüchen, zur Schwierigkeit, diese zu leben, was bei Sperber in die These mündet: Unsere Ansprüche an die Vollkommenheit übertreffen bei weitem die Fähigkeit, sie zu erringen, und das Dich wiederum mit der Dir eigenen Ironie feststellen lässt: Die Welt ist ein weitaus lustigerer Ort, wenn man nicht daran glaubt, ihren Sinn und ihr Ziel errraten zu haben. Und sie ist auch freier, wenn man statt der Einsicht in die Notwendigkeit Einsicht in ihre Fragilität erringt.
Grenzgänger auch zwischen Psychologie, Soziologie, Philosophie und Politik beide, und beide verbunden im Engagement für eine gerechtere Welt und in der Unbestechlichkeit, mit der beide diesen Kampf geführt haben; verbunden auch in den schmerzlichen Erfahrungen dabei, die bei Sperber zu der Erkenntnis führen: Rechtsbewusstsein entsteht durch Unrechtserlebnis und zu Deinem wie ergänzenden Postualt: Kollektive Schuldzuweisung verhindert a priori, dass die Menschen sich dort schuldig fühlen, wo sie unbestreitbar schuldig sind. Und wenn Sperber davon überzeugt ist Auch wer gegen den Strom schwimmt, schwimmt im Strom dann ist dies nachgerade die Zusammenfassung Deines wendereichen Lebens, auf welches Du als selbstbenannter „Dinodissident" zurückgeblickt hast.
Das Wesentliche aber: Beide wart ihr Dichter! Und das bisher Angeführte war zum größten Teil Vorlage und Angelpunkt des Schreibens.
Und bei Dir, dem Romancier und Chronisten, dem humoristischen Träumer und Realisten, immer dabei die Maske als Dein Markenzeichen, die Tarnung gegen den Schmerz, gegen die Verletzungen, die Kränkungen, die wesentlichen Verluste; Schutz auch vor den eigenen Tiefen - wer weiß schon, was geschieht, wenn man von den Ketten lässt. Mit Doppelbödigkeit und Wortspielen, Sprüngen und Schlenkerern, eingebettet in scheinbare und echte Melancholie, die Sprache ausquetschend, drehend, neu erfindend, oft bis zum Äussersten komprimmiert, aber immer poetisch mit einer nachgerade bacchantischen Formulierungs- und Spracheslust, der man zugleich Deine Überraschung über ihre Vielbödigkeit anmerkt.
„Der Stoff des Dichters - die Sprache - ist nie zu versachlichen", schreibst Du, und so ist sie Dir nicht nur praktikables Handwerkszeug, sondern literarischer Ausdruck und darüber hinaus immer Kulturträger.
Später wirst Du als Weltpräsident des internationalen PEN die Herausgabe von Literatur in den sogenannten kleinen Ostsprachen auf Deine Agenda setzen. „Man soll die Literatur ausserhalb der Hasstiraden des mitteleuropäischen Raums definieren", sagst Du, „ man soll respektieren, dass Werke eine Herkunft haben, aber man soll anerkennen, dass nicht mehr die Herkunft das Wichtigste ist, sondern ihre Vergleichbarkeit in einem internationalen Code, und dass die Freiheit der Worte auch die Freiheit von Hass ist." Und wenn Du gemäß der PEN-Charta über die Unantastbarkeit dieser Freiheit des Wortes befandest, dann hast Du die Grenze dort gezogen, wo das Wort zu Hass aufruft.

Schon die von Dir gegründete, damals erste nicht kommunistische Literaturzeitschrift hieß Tvar - Das Gesicht, ein wohl programmatischer Name für alles Folgende.
Und die Romane und die als Sachbücher getarnten Erzählungen über Dich, über Tschechien, das Bier- UND Weinland, das es bis heute nicht fertiggebracht hat, ein knödelgerechtes Fischmahl zu ersinnen, wie Du beklagst, über Geschichte und Sprache, über die tschechische Seele, die zunehmende Interdependenz unserer politisch, wirtschaftlich und sozial zerrissenen Weltgesellschaft erkennend über Politik im urwörtlichen Sinn und dabei immer vom Kleinen ins Große weisend, über die Natur des Menschen und damit immer über das Leben, wie Du es gesehen hast.

Auf die Frage beider Wirksamkeit angesprochen, hast Du einmal gesagt, Kunst und Kultur können den Raum der Freiheit vergößern.
Die Freiheit wurde Dir genommen, aber herausgeworfen wurdest Du vor allem aus Deiner Sprache, der vertrauten, und damit des ursprünglichsten Werkzeuges beraubt; Das Neue zu fassen ... in der neuen Sprache warst Du gezwungen - die tiefste Erniedrigung, die größte Verletzung, die härteste Bestrafung vielleicht durch die gewalttätigen Metzger der Tage.
Was war der Preis dafür? Es ist die alte Tschechenfrage, und einmal sinnierst Du: „Der Preis für die Gedichte, derentwegen ich eingesperrt wurde, ist ihre Normalität heute, aber hätte ich die gleichen heute geschrieben, wären sie nie publiziert worden..."
Und in den Mehrspalt warst Du gezwungen. Oder wurden gerade dadurch Deine Mehrfachbegabungen erst erweckt, die kontroversielle Vielfalt, hat das Ringen mit den Widersprüchlichkeiten Dein Leben erst ausgemacht? Der Mann, der in Wahrheit leben wollte, im politischen Amt mit allem Wissen um Hintergründe und Abgründe. Der Künstler als Staatsmann, aber Könner auch hier in der Bemeisterung dieser Aufgabe.
Der Mann des freien Wortes mit langer Diplomatenkarriere in einer fragilen Zeit, in der Wandel und Untergang schon vollzogen waren; ohne jeden elitären Gestus des Intellektuellen ein Wissender um den Skandal, denselben aber diplomatisch vermeidend, jedoch verschlüsselt einfließen lassend in sein Schreiben.
Und so erkennt man Dich In Deinen Schriften, so wie man Dich in den Begegenungen erkannte, nie als Moralist, aber immer in moralischer Beziehung stehend zu Deinem Gegenüber, und das mag wohl der Schlüssel gewesen sein, die Widersprüche zu leben.
Ein beispielhafter Nichtopportunist mit großem Hirn und Herzen, wie Dich einmal jemand genannt hat.

Alles Große ist leise und aus der Muttersprache verjagt hast Du Dich still aufgemacht zu den Ursprüngen, zu Deinem Ureigenen, wie ich denke, zur Lyrik, ausgezeichnet später mit den höchsten tschechischen Literaturpreisen; Der Trottel in Fremdgärten, als der Du Dich aber vorerst bezeichnest, im Stummland fast beinahe stumm geworden, in der ersten aktiven Begegnung mit der neuen, der deutschen Sprache, im Frischwort langsam sich zurechtfindend, ausgerechnet Rilkes Duineser Elegien in die verlorene Sprache, ins Tschechische übersetzend.
Mit der langsam vorübergehenden Sprachlosigkeit aber plötzlich in eine vorübergehende Blindheit geworfen fragst Du Dich in der Klinik: „Hat die linke Hemsiphäre gelitten, weil die rechte das Akkustische, also die Sprache versorgt? War es Selbsterhaltungstrieb, dass nicht die endlich mal halbwegs begehbare Brücke zu meinem neuen Ambiente getroffen wurde? Zu dem Deutsch und seinen Deutschen?"
Und Du erzählst wie ein Student den Ackermann aus Böhmen vorspielen soll, in tschechischer Fassung, in der es heisst: die Tod, und der, als er erfährt, dass der Tod im Deutschen ein Er, also der Tod ist, erschrocken ausruft: „Unglaublich, dort könnte ich nicht sterben!"
Aber es war nun auch da die neue Gefährtin, das Leben mit Dir mehr als nur teilend; neben Dir an der Front, wenn es galt, entscheidend wirkend aber und nicht nur für den täglichen Kampf Dich stärkend im Hinterland.

Zwei schmale Bändchen Lyrik liegen nur mehr vor, geschrieben in Deutsch und tödlich erstaunt über das Deutschwort. In vertrackter Sprache und angereichert mit Wortneuschöpfungen in willkürliche Form gebrachte Kürzestprosa nur scheinbar. Denn schon vor dem zweiten Hinsehen erkennbar die Genauigkeit der Gefühle und eine Seelentiefe, wie das nur edelste Lyrik vermag, geboren noch in den Tiefen tschechischer Sprachwurzeln.
„Alle Figuren hier sind frei erdacht, doch wahrhaftig tot, geliebt, gelitten" setzt Du den Miniaturen voraus und „denn was ist ein Gedicht, wenn nicht ein Name für das Flüchtige?"
„Alles ist wahr in diesen Gedichten," urteilt Sarah Kirsch und nennt sie „ein langes böhmisches Lied in vielen Strophen."

Wenn auch müßig, erhebt sich doch die Frage: Wie hätte es anders gehen können? Ohne die erlebte Geschichte, die Du die Korrektur von Pannen und das Vermischen von Fabeln und Fakten nennst. Wie wäre es gewesen, ohne die Geschichte des europäischen Ostens im letzten Jahrhundert, über die Du schreibst, sie sei weniger von Generälen, als von Generalsekretären gemacht worden. Wer wärst Du geworden ohne die entscheidenden schmerzlichen Wendungen? Wächst man am Widerstand? Wir haben manchmal diese Hypothese besprochen.
Immer sind es wenige nur, die sich aufmachen, ihr persönliches und literarisches Credo auch im Tun umzusetzen. Und immer sind es wenige nur, die in die Gelegenheit gezwungen werden, unter allen Umständen ihren Mut zu Beharrlichlichkeit und Unbestechlichkeit zu beweisen.
Bürdenbrüder, standen wir bäumig gebeugt beginnst Du eine Gedichtzeile und beendest sie fragend: verpflichtet den Himmel zu heben?
Und so ragen aus den gewichtigen Zeugen des vergangenen Jahrhunderts diejenigen heraus, die darüber hinaus vom Opfer zu Gestaltern wurden. Und für sie war der Preis höher. Sie trugen schwer an beiden Lasten, und wenn sie gegangen sind, auch lange danach, dann mag es nicht allzuweit hergeholt sein, zu befinden, dass sie an den Spätfolgen starben.

Wir bergen in uns die erlebte Vergangenheit gleichsam wie eine geronnene Zeit schreibt Sperber, der neben Joseph Roth vielleicht größte deutschsprachige Dichter eines Unterganges, wie es sie im letzten Jahrhundert so viele gab, und die immer neuen Untergang nach sich zogen, bis endlich die Bausteine sich formten, mit denen der Kontinent sich neu erbauen ließe. Das Leben passieren lassen wie die Revue einer verlorenen Zeit, formulierst Du.

Politik ist nur dann auf kurze Sicht richtig, wenn sie auch auf lange Sicht richtig ist sagt ein anderes Mal Sperber. Und Das Anknüpfende ist das Wichtige ... wer sich von seiner Geschichte trennt, gibt sich auf liest man bei Dir.
Und beides könnte als Untertitel Deines letzten Buches mit dem verwirrenden, weil etwa ohne Fragezeichen versehenen Titel „Benes als Österreicher" stehen, einem Vergleich des Werdeganges des umstrittenen tschechoslowakischen Präsidenten mit jenem Hitlers.
Mit einem tschechischen Gesicht der Mann aus Braunau und mit dem Gesicht wie aus einem Nestroystück der Tscheche, wie Du beide beschreibst. Meine Lieblingsdefinition aber von Dir über die von Dir so oft beschworene Ähnlichkeit zwischen Tschechen und Österreichern: Prag bleibt Wien.
Und nein, dieses Buch ist keine Schweykiade, als die man es vielleicht verkaufen wollte, kein historischer Essay, auch kein Pamphlet, auch keine Auf- oder Abrechnung. Beifall wie Ablehnung, von richtiger, wie von falscher Seite beweisen es.
Auch dieses Buch geschrieben in perfekter Gruša'scher Tarnung, voll verblüffendem historischen Wissen, von dieser Warte aus vielleicht auch von anderen schreibbar, nur mit tschechischer Seele allerdings auf diese Art, nur aus Deinem Wesen, Deiner Biographie und Deiner Wortkunst heraus jedoch so und nicht anders und damit unnachahmlich. Hinter der Anmutung eines Streiches ruht Dichtung im wahrsten Sinn des Wortes, verdichtend, wissend, weil erkannt habend, jederzeit eine intellektuelle Wertediskussion anstachelnd, mit ernstem Lächeln den Bogen aus der Vergangenheit weit in die Zukunft spannend.
Umso bezeichnender, dass auch in diesem Fall die Tarnung geglückt ist. Hat doch das Buch im letzten Sommer wochenlang die Bestellerliste in Prag angeführt - allerdings die der Sachbücher. Und doch ist es nur die Weiterführung Deiner Lyrik und ihrer Themen in anderer Form.

Einer jener so gut wie unbekannten Aphorismen von Franz Grillparzer, jenes gleichermaßen falsch eingeschätzten und wie zum Hohn zum österreichischen Nationaldichter Erkorenen lautet: Ein Vorzug bleibt uns ewig unverloren, man nennt ihn heut die Nationalität. Sie sagt, dass irgendwo der Mensch geboren - was freilich sich von selbst versteht.
Ich habe mit diesem Aphorismus unser letztes Podiumsgespräch anlässlich der Wiener Präsentation von „Benes als Österreicher" beendet, und ich freue mich heute noch über Deine kurze Sprachlosigkeit zusammen mit einem Ausdruck neidloser Freude in Deinem Gesicht über die Treffsicherheit und Zeitlosigkeit dieses Grillparzerspruches.
Dass es übrigens ein für uns beide gelungenes Gespräch war, bestätigte die Leiterin des tschechischen Kulturinstitutes, als sie meinte: „No bitte, gutes Gespräch, aber a bissl sehr intellektuell!" Prag blieb eben auch an diesem Abend Wien.

Es reicht nicht, die Brücke in einer letztendlich überschaubaren Landschaft zu bauen, es gilt, den Ozean zu wagen schreibst Du, und in einem frühen Gedicht heißt es: Und keine Wege mehr - der Befehl bloß, sie unentwegt zu bauen. Den Ozean hast Du gewagt und warst dabei im Wirken wie im Werk nicht nur einer der Bereiter, sondern auch ein leiser, wenn auch nie unkritischer und doch unbeirrbarer und niemals müder Bewacher des Weges hin zur Großbaustelle Europa, jenes Neubaues, dessen Errichtung die Überwindung des Nationalismus und seiner Auswüchse besiegeln sollte, auf der sich heute jedoch die vielen selbsternannten Bausachverständigen zum lauthalsigen Expertengeschwätz einfinden, immer noch nicht begreifend, oder nicht begreifen wollend, dass der Zement des Nationalismus der untaugliche Baustoff ist, das Bauwerk zusammen zu halten. Deine These Je weniger man die Nachbarn kennt, desto einfacher ist es, sie nicht zu mögen könnte als Werbeslogan für die Einheit Europas stehen. Und Sie reden über das Kulturerbe und meinen Feindbilder, ist einer Deiner vielen Befunde über den mentalen Kern des Faschismus, der in Kürzestform auf den Punkt bringt, was lange Abhandlungen oft nicht vermögen. Dieser Geist ist es, der aus Deinem Wek spricht und der in diesem Werk weiterleben wird.

Und doch, je besser ich Dich kennengelernt habe, umso mehr hatte ich das Empfinden, Du seist innerlich wie auf der Durchreise, und umso weniger habe ich Dir den Titel eines Deiner Erfolgsbücher „Glücklich heimatlos" geglaubt. Zu viel ist darin von Liebe die Rede, allein wenn Du nur über Prag schreibst. Dieser Titel ist eine Notlüge, aus der Not eine Tugend machend. Zudem enthält er die Finte, kaum jemandem bewusst, dass es im Tschechischen mehrere verschiedene Begriffe für Heimat gibt. „So kann man schön schwenken" hast Du dies einmal beschrieben - kurzum: Der Buchtitel war Programm, erlebtes und gelebtes immerhin, aber nie Zustand.
Vielmehr hast Du tief im Herzen das Bild vom tschechischen Honza verkörpert, der in die Welt zieht, einen Tannenstock auf der Schulter und daran das karrierte Tüchel zu einem Beutelsack geknüpft für die wenigen Habseligkeiten. Und Honza ist schon auf der Straße, da läuft ihm die Mutter nach: „Hier, vergiss nicht, damit Du was hast, wenn du unterwegs Hunger kriegst", und sie stopft ein paar frisch gebackene Buchteln gefüllt mit duftendem Powidl in das Tüchel.
Du, der sanfte Krieger mit universeller Bildung, der idealistische Realist, der pragmatische Romantiker in Zweifel und Selbstzweifel, voll pessimistischer Hoffung auf Schweykscher Psychogrundlage, der tschechische Europäer, der europäische Tscheche und humanistische Kosmopolit, der - wie Du selbst Dich genannt hast „europäische Bürger, homo pragensis, lingua bohemica", hast das Tüchel mit den Buchteln immer mit Dir getragen, unsichtbar für andere, spürbar für ganz wenige; Du hast nicht gegessen davon, aber manchmal heimlich daran geschnuppert.
Und wenn Du in einem Deiner Gedichte befindest Brüder oh Tschechen, bin wieder so schwach in Heimatkunde, dann ist, wie es anderer Stelle heißt, Ulysses jetzt heimgekehrt in Patria, über den Aaasfalt nach Hause, oder besser gesagt zu dem, was in den Gedichten nachzulesen das Zuhause noch ausgemacht hat. Heimgekehrt bist Du in den Babylonwald in Ensko ... zum böhmischen Wind, der das Teichmoos zum Sprechen bringt, und zu Martin auf dem Hagedornhügel ... an den Kitschkai mit Hradschin und unter die Markisen matt unter der Mittelglocke des Veitsdoms ... zum Vater, dem tanzenden, zur Mutter mit flackerndem Haar, zu Kumpeln und den zornigen Bürdenbrüdern ... zu den Primeln der noch jungen Elbe ... unter den Erzhimmel Böhmens ... zu den Sitzen der Fürsten in Böhmen am Meer ... zu hören das Wintermärchen Böhmen ...
Sein ganz eigenes Wissen um Heimatkunde hat Ulysses geleitet. Aber die Buchteln waren Ausgansgpunkt und Endpunkt. Jetzt, Jiří Gruša, iss sie, beiss kräftig hinein, und lass sie Dir schmecken.

Deiner Liebe zum Lachen über die Absurditäten des Lebens, Deinem schelmischen, manchmal talmudisch geschult anmutenden, aber immer menschlichem Humor gemäß bleibe jene Schweykiade nicht unerwähnt, in welcher der Österreichische Pen-Club - etliche Jahre in Deinem Kielwasser, gelegentlich auch auf Deiner Bugwelle seine anachronistische Existenz legitimierend - vierzehn Tage nach Deinem Tod, der ihm so gut wie keine offizielle Zeile wert war, in einer Rundmail auch bei Dir anfragte, ob die gespeicherten Adressdaten noch aktuell seien, und die Witwe die Anfrage mit dem Hinweis zurücksandte, dieselbige sei an höheren Orts zu richten. Eine österreichische Schweykiade hättest Du es genannt, oder in Umkehrung Deiner zuvor erwähnten These: Wien bleibt Prag! Und es hätte sich Dein Lächeln zwar, jedoch jene nur Vertrauten bekannte Bitterkeit darin kaum verstärkt.
Bei allem Respekt vor dieser Feierstunde will jedoch auch nicht verschwiegen sein, dass Deine Genugtuung über die Zuerkennung dieses bedeutenden Literaturpreises und die Freude über das prompt überwiesene Preisgeld, von der nur von Eingeweihten gewussten Enttäuschung überlagert wurde, dass es zu keiner offiziellen Verleihung und somit zu keiner medialen Resonanz kommen wollte; mag diese Kränkung auch ante wie post mortem eine vergleichsweise geringe, weil vergleichsweise lokale sein, „wie eine Träne im Ozean" sozusagen.
Dass aber - abgesehen von wenigen Ausnahmen und auch diese erst seit wenigen Tagen - www, im world wide Web und somit weltweit bis dato als letzter Preisträger der verdiente ungarische Kollege aus dem Jahr 2009 ausgewiesen wird, kann man schon als Teil jenes Ozeans selbst ansehen, in den wir unsere Tränen um Dich weinen.

Wenn Fernando Pessoa meint: Schreiben heißt Vergessen - die Literatur ist die angenehmste Art, das Leben zu ignorieren dann warst Du alles andere, nur kein Literat.
Umso lauter rufe ich Dir, so wie es Brauch ist und wie es sich gehört, meine herzliche Gratulation zum Erhalt des Manès Sperberpreises 2011 für hervorragende literarische Leistungen zu. Und uns, die wir in einer immer schneller sich drehenden Welt zu einer immer hektischeren Tagesordnung überzugehen verdammt scheinen, rufe ich zu: Es lohnt sich allemal, dabei Jiří Gruša nicht zu vergessen. (Miguel Herz-Kestranek, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe/Langfassung, 27./28. Jänner 2012)