Als Teil einer Figurengirlande geplant: "Untitled (Line-up)" von 1977/2011.

Foto: Cindy Sherman / SAMMLUNG VERBUND

Gut gelaunt posierte die Virtuosin der Selbstinszenierung, Cindy Sherman, beim Wien-Besuch vor einigen ihrer Rollenbilder. Sherman, 56,  zählt zu den wichtigsten Künstlerinnen und Fotografinnen der Gegenwart. Die Fotos der Amerikanerin zählen überdies zu den teuersten am Kunstmarkt (Höchstpreis 2,85 Millionen Dollar).

Foto: STANDARD/Cremer

Ihr eigener Blick auf die frühe Zeit, verriet sie Anne Katrin Feßler, sei jedoch durchaus kritisch.

Wien – Sie ist ein Chamäleon. Es gibt keine Rolle, in welche die US-Künstlerin und -Fotografin Cindy Sherman nicht geschlüpft ist: Model oder Madonna, Bibliothekarin oder Femme fatal, Figur eines altmeisterlichen Gemäldes oder von Maden angeknabberte Leiche. Zuletzt verbildlichte die 57-Jährige die psychologischen Abgründe der Clowns. Einen Hang zur dramatischen Typveränderung hatte sie bereits in Kindertagen, obwohl ihr das Kostüm des Monsters oder der runzligen alten Dame stets mehr behagte als das der Prinzessin.

Die 69-teilige Serie der Untitled Film Stills (1977-1980), die die 23-jährige Sherman noch in ihrem ersten Sommer in New York begann, machte sie rasch berühmt. Auch darin verkörpert sie verschiedenste Frauentypen – Kunstfiguren aus Film noir und B-Movies der 1940er- und 1950er-Jahre: bis zur Persiflage überzeichnete weibliche Stereotype.

Es waren Arbeiten dieser Serie, mit denen Gabriele Schor 2004 den Grundstock zur privaten Sammlung des Verbund legte. Aber was war davor? Serien wie Untitled A-D (1975) oder Bus Riders (1976) waren zwar bereits 2000 in der Londoner Tate ausgestellt, trotzdem galt es, das Frühwerk restlos zu entdecken. Nun liegt der von Gabriele Schor zusammegestellte, 374 Seiten starke Catalog raisonnée der Jahre 1975 bis 1977 (begleitet von einer kleinen Ausstellung im Verbund-Gebäude) vor, der freilich eine Aufwertung ihres noch während ihrer Studienzeit in Buffalo entstandenen Frühwerks, welches Sherman selbst als "sehr studentisch" beschreibt, bedeutet. Vom Wiener Catalogue Raisonnée und der damit verbundenen Neubewertung von Shermans Frühwerk unbeachtet, startet am 26. Februar im Moma in New York eine große Retrospektive (gespickt mit einer Handvoll sehr früher Arbeiten) der im Big Apple lebenden Sherman.

Aber der Werkkatalog enthält Schlüssel für Späteres und räumt mit Interpretationsirrtümern auf: Die in den Aufnahmen der Bus Riders gut sichtbaren Kabel des Selbstauslösers und die Schlagschatten an der Studiowand konnte man etwa als Zeichen bewusster Inszenierung werten. Ursprünglich sollten die Figuren aber ausgeschnitten werden, vom Hintergrund gelöst Teil neuer Inszenierungen werden: Diese "Cut-Outs" sind allerdings verschollen.

Standard: Haben Sie sich mit dem Umstand, dass jemand in Ihrem Archiv nach unentdeckten Schätzen sucht, immer wohlgefühlt?

Sherman: Gabriele Schor hatte bereits viel recherchiert, und ihre Ernsthaftigkeit überzeugte mich. Je häufiger wir uns trafen und sprachen, umso mehr stieg ich auf die Idee ein, öffnete Kasten um Kasten und sagte: "Ich hätte da noch eine Arbeit in der Lade."

Es gab Dinge, die ich niemals zeigen wollte, Dinge, von denen ich hoffte, jemand würde sie eigentlich erst sehen, wenn ich bereits tot bin. Inzwischen glaube ich, dass es sinnvoll ist zu sehen, womit ich mich vor fast 40 Jahren beschäftigt habe.

Standard: Hatte das Reden über diese sehr frühe Zeit Einfluss auf Ihre aktuellsten Arbeiten?

Sherman: Einfluss nicht. Aber ich bemerkte, dass Arbeiten der vergangenen zwei Jahre formal genau dort anknüpfen. Stark silhouettierte Figuren, deren Hintergründe ich verschob und austauschte, damit es nicht natürlich aussieht, wie etwa bei den "Cut-Outs": Diese Bezüge sind interessant, obwohl ich vieles stets für amateurhaft und studentisch gehalten habe. Einiges davon, etwa die Cover Girls-Serie, scheint mir im Hinblick auf die Intention zu offensichtlich, irgendwie protzig und seicht zu sein.

Standard: Sie sind in so viele Rollen geschlüpft. Waren die Kostüme dabei hilfreich?

Sherman: Ja. Es konnte die Perücke oder ein Requisit sein, die den kompletten Charakter inspirierte.

Standard: Schauspielerisches Talent oder harte Arbeit?

Sherman: Die Schauspielerei kam mir nie in den Sinn. Ich konnte gut posieren, nicht unbedingt schauspielern. So wie andere ein Ohr für Musik haben oder Gelesenes genau rezitieren können, ist mein Beobachtungs- und visuelles Erinnerungsvermögen gut.

Standard: Also eher Stand- statt Bewegtbild: Das Kino interessierte Sie aber dennoch?

Sherman: Ich glaube, während meiner College-Zeit hat mich Film mehr inspiriert als das, was in der Kunst passierte. Zunächst studierte ich Malerei, aber die war – wie auch viele Zeitungen schrieben – tot. Also ging ich in die Fotografie.

Standard: Aber Fotografie war damals noch nicht als Kunst etabliert. War das für Sie ein Problem?

Sherman: Im Gegenteil, es war befreiend. Auch anderen gab das die Freiheit, mit niemandem wetteifern zu müssen, unbeeinflusst zu arbeiten. Die neuen Medien wurden hauptsächlich von Frauen genutzt, etwa von Barbara Kruger, Laurie Simmons oder Sarah Charlesworth. Man vermied es, sich auf die Kunst von Männern zu beziehen, die alle Aufmerksamkeit bekam. Schwierig war es allerdings, etwas zu verkaufen. Noch 1982 bei der Documenta 7 hörte ich von Sammlern: "Oh, ich mochte ihre letzte Ausstellung wirklich, aber ich sammle leider keine Fotos." Fotografie war von niedriger Klasse.

Standard: 1976 haben Sie die Kamera als Werkzeug beschrieben, mit der Sie Ihre Erfahrungen als Frau erkunden konnten.

Sherman: Als ich das schrieb, war ich sehr jung, 22, wollte smart, stark und selbstbewusst wirken. Heute glaube ich nicht mehr, dass ich das wirklich so sah. Ich glaube, ich habe meine Arbeit mehr als notwendig politisiert.

Standard: Vorbilder waren für Sie damals Künstlerinnen wie Lynda Benglis oder Adrian Piper.

Sherman: Was sie für mich einflussreich machte, war der Umstand, dass sie Frauen waren, die erfolgreich Kunst produzierten und dazu ihren Körper nutzten. Von Benglis, die eine Anzeige gestaltete, auf der sie mit einem Penis posierte, hatte ich in einem Artikel über Kunst im Life -Magazin gelesen. Vor dem College war das quasi mein einziges Wissen zur Gegenwartskunst. An Piper mochte ich das Subversive. Als ich sie vor zehn Jahren traf, ihr sagte, wie sehr mich ihre Arbeit beeinflusst hatte, schien sie nicht sehr glücklich darüber. Ich hatte das Gefühl, ich sollte besser den Mund halten und schnell weggehen.

Standard: Die Serie (Air Shutter Release fashions, 1975) scheint aus Ihrem Werk herauszufallen, weil Sie nicht Ihr Gesicht, sondern allein Ihren nackten Körper zeigt.

Sherman: Das ist die Arbeit, von der ich dachte, man würde sie erst nach meinem Tod wiedersehen. Ich bin sehr selbstkritisch. In keiner meiner Arbeiten enthülle ich mich, ich verstecke mich eher, lösche meine Identität aus. Diese Serie ist das komplette Gegenteil. Es waren die 1970er, und keiner außer mir hatte Angst, sich auszuziehen. Ich war prüde und wollte mich meiner Angst stellen. (DER STANDARD, Printausgabe, 27.1.2012)