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Eugen Ruge: "Insofern verdanke ich meinem Vater sehr viel."

Foto: Patrick Sinkel/dapd

Ein Gespräch. Von Josef Bichler.

STANDARD: Dieses Café hier liegt in der Gleimstraße, die ja auch in Ihrem Roman "In Zeiten des abnehmenden Lichts" kurz erwähnt wird. Hat es mit der Gleimstraße eine besondere Bewandtnis?

Ruge: Das ist mir jetzt fast peinlich, aber Ihre Beobachtung stimmt. Ich habe in einer Wohnung in dieser Straße einmal ein sehr schwieriges Jahr zugebracht; zwar nicht zu der Zeit, wie es im Buch beschrieben ist, aber es hat schon damit zu tun.

STANDARD: Ich nehme an, dass dieses So-ähnlich-aber-anders auch für die Charakterisierung Ihres Vaters gilt. Würde sich denn Ihr Vater Wolfgang in Kurt aus Ihrem Roman wiedererkennen?

Ruge: Wiedererkennen bestimmt, auch wenn aus der Sicht Alexanders (Kurts Sohn im Roman, Anm.) vieles bösartiger ist, als das aus meiner Sicht wäre. Das hat Freunde meines Vaters sehr erbost, und ich muss denen dann erklären, dass es zwischen den fiktiven und realen Personen einen erheblichen Unterschied gibt.

STANDARD: Bleiben wir bei den realen Personen. Wie würden Sie Ihren Vater beschreiben?

Ruge: Mein Vater wurde streng kommunistisch erzogen, das war eine starke Prägung. Nachdem er diese schweren Erfahrungen in der Sowjetunion machen musste, hat sich sein Leben im Grunde zwischen diesen beiden Polen abgespielt, auf der einen Seite sein Traum von einer besseren Welt, auf der anderen Seite seine Erfahrungen mit dem realen Sozialismus in Stalins Sowjetunion.

STANDARD: Erfahrungen, über die er zu DDR-Zeiten geschwiegen hat ...

Ruge: Zumindest öffentlich. Man muss sagen, dass die Geschichte des Sozialismus in der DDR ein Tabuthema war, was im Grunde noch einmal ein Vergehen an denen ist, die durch die Verbrechen Stalins umgekommen sind. Das sind Opfer, die nicht erinnert wurden, derer nicht gedacht wurde.

STANDARD: Aber wäre nicht gerade Ihr Vater als einflussreicher Historiker in der Pflicht gewesen, diese Erinnerungsarbeit einzufordern?

Ruge: Er war offenbar erst sehr spät in der Lage, über diese Erfahrungen zu schreiben. Überdies hat mein Vater vor allem zur Weimarer Republik gearbeitet.

STANDARD: Was einen Akademieprofessor nicht daran hätte hindern müssen, sich zu Themen außerhalb seines Forschungsschwerpunktes zu äußern.

Ruge: Ich würde sagen, er hat im Rahmen dessen, was möglich war, versucht, seine Meinung zu äußern. Aber abgesehen davon, dass er bestimmt in manchem auch angepasst war, kommt noch dazu, dass er auch Marxist war und Thesen vertreten hat, mit denen die bürgerliche Geschichtsschreibung damals wie heute nicht einverstanden wäre.

STANDARD: Sind Sie auch Marxist?

Ruge: Ich finde, das Wort Marxist ist eigentlich schon von Übel, weil derjenige, der sich als Marxist bezeichnet, Gefahr läuft, Marx falsch verstanden zu haben. Ich halte Marx für einen wichtigen Denker und finde, dass man mit Marx nach wie vor viel anfangen kann.

STANDARD: Kommen wir von Marx zurück zu Stalin. Ihr Vater emigrierte 1933 nach Moskau und kehrte erst 1956 nach Deutschland, in die DDR, zurück. Sein "Bericht" in der nun vorliegenden Form umfasst diese Zeitspanne und ist ein Konglomerat aus Manuskripten, die in verschiedenen Fassungen vorhanden und in ihrer Entstehung zum Teil Jahrzehnte auseinanderliegend sind. Wie haben Sie diese komplexe Quellenlage bewältigt?

Ruge: Ich habe Bearbeitungsschichten wieder aufgelöst, das heißt, ich bin auf ursprünglichere Manuskripte zurückgegangen und denke, dass dies dem Buch gutgetan hat. Wenn ich gemerkt habe, dass er aus gutem Grund in späteren Fassungen etwas geändert hat, dann habe ich diese Änderung natürlich übernommen.

STANDARD: Sind Sie da als Sohn nicht Gefahr gelaufen, tendenziös zu werden?

Ruge: Diese Gefahr gab es bestimmt. Was man mir vielleicht am meisten vorwerfen kann, ist, dass ich doch eine Menge an Adjektiven rausgestrichen und den Text etwas ernüchtert habe. Allerdings ist es so, dass die Tendenz zur - mitunter missglückten - Lyrik bei ihm im hohen Alter zunimmt, man muss sagen: mit der einsetzenden Demenz. Ich habe da zum Teil radikale Streichungen vorgenommen und versucht, die Sätze auf ihren Kern zu reduzieren. Für mich ging es darum, die Geschichte in ihrer Substanz zu retten und so originär wie möglich zu machen, also die plausibelste und ursprünglichste Variante herzustellen beziehungsweise wiederherzustellen.

STANDARD: Beim Ergebnis dieser Bemühungen handelt es sich, ich zitiere aus dem Pressetext, um ein "persönliches wie politisches Buch, das an die Seite der literarischen Werke von Alexander Solschenizyn, Wassili Grossman und Warlam Schalamow gehört". Wird da nicht gar hoch gegriffen?

Ruge: Steht das dort? Daran kann ich mich jetzt nicht erinnern. Literarisch hält der Vergleich bestimmt nicht Stand. Es ist kein literarisches Buch, es ist ein Bericht. Was die Ungeheuerlichkeit des Erlebten anlangt, ist die Geschichte bestimmt mit den Genannten vergleichbar. Natürlich ist Schalamow ein ganz großer Literat, das ist Wolfgang Ruge nicht. Ich denke aber, dass er die Geschichte des Gulag aus einer Perspektive erzählt, die so noch nicht in die Literatur eingeschrieben ist.

STANDARD: Die da wäre?

Ruge: Wäre die einer bestimmten Opfergruppe, nämlich jener sogenannten Arbeitsarmisten, also von Leuten, die gar nicht verurteilt wurden wegen irgendeines angeblichen Verbrechens, sondern Deutschstämmiger, die bei Kriegsanbruch zunächst deportiert und später zur Lagerarbeit interniert wurden. Und die Geschichten dieser Opfergruppe ist in dieser Form noch nicht erzählt worden, zumindest ist mir nichts Vergleichbares bekannt.

STANDARD: Sie haben auf die Notwendigkeit einer nüchternen Sprache hingewiesen. Nun erzählt Herta Müller in "Atemschaukel" nicht die gleiche Geschichte, aber auch dort geht es um ein Schicksal in einem sowjetischen Arbeitslager. Dort trifft man aber auf eine hochpoetische Sprache, die so ziemlich das Gegenteil von dem ist, was Sie einfordern.

Ruge: Ja, dort finden Sie ein deutlich anderes Sprachkonzept. Mein Ideal ist eine Sprache, die hinter ihrem Gegenstand verschwindet, indem sie präzise zum Ausdruck bringt, was sie soll. Eine Sprache, die ständig spürbar ist und sich ständig in ihrer Schönheit zelebriert, entspricht nicht meiner Ästhetik. Ich bin vorsichtig mit Metaphern. Die größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte sind sprachlich auf eine Weise verbrämt worden, die, sagen wir mal, das Gegenteil von nüchtern ist.

STANDARD: Also doch keine Gedichte mehr nach Auschwitz?

Ruge: Ich fühle mich, in Abwandlung von Adorno, nach Auschwitz zur Nüchternheit verpflichtet.

STANDARD: Sie betonen, dass ein Schriftsteller vor allem ein Bewahrer sei. Haben Sie mit Ihrem Roman und der Herausgabe des "Vaterbuches" diesen Auftrag erfüllt?

Ruge: Ja, das könnte man so sagen. Wenn Sie so wollen, ist mein Vater bis zur DDR gekommen, und ich habe dann den Rest erzählt. Ich habe mich ja auch für mein Buch bei meinem Vater bedient. Nicht nur bei diesem Buch, sondern auch bei seiner Familienchronik, die er als Familienforscher geschrieben hat, etwa auch über meine russischen Vorfahren mütterlicherseits. Insofern verdanke ich meinem Vater sehr viel.

STANDARD: Haben Sie mit der Herausgabe dieses Buches also Ihrem Vater ein posthumes Geschenk bereitet?

Ruge: Es ist für mich eine gewisse Freude und Befriedigung, ihm auf diese Weise ein bisschen etwas von dem zurückgeben zu können, was er mir geschenkt hat.

STANDARD: Manche unken, dass Ihnen als Schriftsteller über Ihre Familiengeschichte hinaus nichts mehr einfallen werde.

Ruge: Und wenn, wäre das schlimm? Mein einziges Problem wäre, was ich dann mit meinen Vormittagen anfangen soll. (Josef Bichler, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 28./29. Jänner 2012)