Olaf Rogge: "Europa ist in eine Gesellschaftsform geschlittert, die sich auf die ärmsten fünf Prozent konzentriert. (...) Nur die sollten wählen dürfen, die auch Steuern zahlen."

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David Camerons "No" zum neuen EU-Vertrag verschärft die Eurokrise zusätzlich. Der britische Premier ...

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... zeigt den EU-Finanzministern die kalte Schulter.

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Olaf Rogge nimmt sich kein Blatt vor den Mund. Seine Erfolge geben ihm recht – nicht umsonst gilt er als einer der erfolgreichsten Anleiheninvestoren überhaupt. Im Gespräch mit derStandard.at beleuchtet er nicht nur das Phänomen David Cameron. Denn während die Welt gebannt auf die Eurokrise starrt und die Ratingagenturen den Ländern ein geliebtes A nach dem anderen streichen, versinken die USA und England fast unbeachtet im Pleitesumpf. Welche Verblendung dahinter steht, was in der Politik falsch läuft und wem er das Recht zu wählen verbieten würde, weiß der Gründer der Vermögensverwaltung Rogge Global Partners.

derStandard.at: Soll Griechenland pleite gehen?

Rogge: Ich hoffe sehr, dass Griechenland die Eurozone verlässt – wir hätten dadurch ein schwaches Glied weniger, und das wäre sehr gut für den Euro. Athen wird aber wohl nicht so dumm sein, auch wenn die Griechen jetzt noch Katz und Maus mit den Euroländern spielen.

derStandard.at: Was wären die Folgen bei einem Default?

Rogge: Die anderen Länder in Südeuropa würden sehen, wie ein Land richtig leiden kann: Die Drachme würde nach unten und das Land selbst in eine Depression rauschen. Die Erwartung der Bevölkerungen in den europäischen Leistungsgesellschaften wird seit 30 Jahren von den Politikern in die Richtung aufgeheizt, dass sie alles bekommen auf Kosten wachsender Schuldenberge. Im Grunde sind die Politiker an der heutigen Misere schuld.

derStandard.at: Fürchten Sie keinen Dominoeffekt durch eine Pleite Griechenlands?

Rogge: Nicht für die Länder selbst, sondern für den Markt. Nehmen wir unsere südlichen Nachbarn: Italien hat immer hohe Schulden gehabt, trotzdem sind die Italiener noch sehr vermögend. Dadurch ist Italien sicherer als Spanien. Gerade in Norditalien gibt es, vor allem was den Export betrifft, eine funktionierende Wirtschaft. In Zehn-Jahres-Abständen warfen die Italiener ab den 1950er bis in die 1970er Jahre Waren von Weltgeltung auf den Markt. Von der Waschmaschine über den Fernseher bis hin zum Telefon, Autos oder Kühlschränken. Heute wird an der Neugestaltung dieser Artikel gearbeitet – und die Italiener haben die größte Erfahrung mit Design.

derStandard.at: Steht Europa somit gar nicht so schlecht da?

Rogge: Im Vergleich zu den USA oder England ist die Eurozone finanziell weitaus besser aufgestellt.

derStandard.at: Warum dann diese Panik in Europa?

Rogge: Zu wenige Menschen lesen den "Standard" zu wenige lesen das "Handelsblatt", weil so gut wie niemand Deutsch spricht. Die Macht der Finanzwelt spricht Englisch. Die Meinung der meisten Leute wird dadurch geprägt, dass sie die "Financial Times" oder das "Wall Street Journal" lesen. Bedauerlicherweise kommen genau diese Leute aus Ländern, die im Grunde genommen pleite sind. Der Bevölkerung wird dadurch konzentriert vermittelt, wie schlecht es um Europa bestellt ist - die prekäre Situation im eigenen Land wird heruntergespielt.

derStandard.at: Welchen Teil tragen die drei größten US-Ratingagenturen dazu bei?

Rogge: Erst haben sie zu spät geratet und jetzt zu früh. Man kann die Ratingagenturen mit der Umwelt vergleichen: Die Luft wird immer schmutziger, damit müssen wir einfach leben. Andererseits bin ich gar nicht so unglücklich darüber, dass Staaten wie Frankreich hinuntergestuft wurden, weil die Länder in Europa dadurch die ersten sind, die versuchen, das Anwachsen der Schulden zu reduzieren. Es ist also dummes Zeug, wenn der britische Premier David Cameron von "to reduce deficits" spricht anstelle von "to reduce the increase of deficits". In diesem Zusammenhang kann man sich bei den Ratingagenturen nur bedanken, weil sie Europa dazu zwingen zu handeln. Solange alles vermeintlich gut aussieht, wird niemand den Gürtel enger schnallen.

derStandard.at: Frankreich hat ein "A" verloren, Deutschland hingegen behält die Bestnote. Wie mag sich Nicolas Sarkozy wohl fühlen?

Rogge: Natürlich ist Sarkozy enttäuscht. Neben Deutschland ist er nun der kleine Mann.

derStandard.at: War er doch nicht auf gleicher Höhe mit Angela Merkel?

Rogge: Europa ist in eine Gesellschaftsform geschlittert, die sich auf die ärmsten fünf Prozent konzentriert. Unser politisches System funktioniert nicht mehr. Anstelle nur einer Regierung gibt es in den Ländern durch die Bank zusätzlich eine Opposition. Sie will alles schlechtmachen, was die Regierung tut. Eine Opposition verwirrt die Menschen, wenn man sich in einer Krise befindet. Die USA beispielsweise legen einen Zehnjahresplan vor, um das Defizit zu reduzieren, beginnen aber erst nach acht Jahren, die Reformen umzusetzen. Würde ich in meinem Geschäft so viel versprechen und so wenig erzielen oder erreichen, bekäme ich wahrscheinlich lebenslänglich. Politiker hingegen sind nicht haftbar. Für sie ist Politik ein Beruf und Macht, keine – oder mit relativ wenig Interesse – Arbeit für das langfristige Wohlbefinden ihrer Bevölkerung.

derStandard.at: Was wäre ein Ausweg?

Rogge: Man muss die Menschen früh genug über die aktuelle finanzielle Situation und die nötigen Reformen informieren. Doch zum einen interessieren sich die meisten Leute nicht für Politik, und zum anderen meine ich – dass unser Sozialsytem in Europa geändert werden muss: Leute, die keine Steuern zahlen, sollen auch nicht wählen dürfen.

derStandard.at: Ist das Ihr Ernst?

Rogge: Natürlich. Unsere Sozialausgaben steigen und steigen. Ein arbeitsloser Engländer beispielsweise darf 26.000 Pfund netto (35.000 Euro, Anm.) steuerfrei verdienen, während die meisten Berufsanfänger mit 25.000 Pfund Gehalt einsteigen. Man ist also besser dran, wenn man nicht arbeitet.

derStandard.at: England kämpft gegen ein enormes Defizit. Warum also immer noch ein Triple-A für diesen Schuldner?

Rogge: Ein Rating beruht immer darauf, ob ein Land sein Geld zurückzahlen kann oder ob Risiken bestehen. Hat man eine eigene Währung im eigenen Land, sind zwei Fälle möglich: entweder man wertet ab, wie es England immer getan hat, oder man bedient sich des Quantitive Easing, wie es die USA oder auch England tun. Will man Geld drucken, und die internationalen Schuldner akzeptieren das, behält man automatisch sein Triple-A. So gesehen hat jedes Land ein einheimisches Triple-A-Rating-Potenzial. Scheidet Griechenland aus der Eurozone aus, kann das Land also immer noch ein nationales Triple-A haben.

derStandard.at: Ratingagenturen bewerten aber ausschließlich nach Staatsschulden.

Rogge: Das ist die Krux. Rogge Global Partners hat bei der London Business School of Economics eine Studie in Auftrag gegeben, um die tatsächlichen Schulden der Länder zu beziffern. 130.000 Pfund und acht Monate später wussten wir es immer noch nicht. In England hat jede einzelne Staatsabteilung andere Zahlen. Die Länder selbst – da sind Österreich und Deutschland nicht ausgeschlossen – wissen nicht, wie hoch ihre Schulden tatsächlich sind. Man glaubt den Zahlen des IWF oder der Weltbank, überprüfen lassen sie sich nicht. Tatsächlich liegen die Schulden Deutschlands bei 80 und nicht bei 60 Prozent des BIP.

derStandard.at: Der britische Premier David Cameron hat von den anderen europäischen Regierungschefs mehr "Mut bei der Lösung der Euro-Krise" gefordert". Wie ist sein jüngstes "Nein" zum neuen EU-Vertrag zu verstehen?

Rogge: Cameron ist so etwas wie "The New Kid on the Block". Er steht in der eigenen Partei unter enormem Druck. Die Tories fordern Härte. So muss er – zumindest scheinbar – energisch auftreten. Imagepflege, könnte man sagen. In der Vergangenheit brauchte England lange, bis es begriff, dass sich die Welt weiterdreht, um es dann letztendlich endlich doch anzunehmen. Das Land ist Alleingänge gewohnt, und Cameron wollte das noch einmal betonen. Doch England braucht Europa sehr, und ich hoffe, dass es nicht eines Tages kracht.

derStandard.at: England sollte also der Eurozone beitreten?

Rogge: Unbedingt, denn das Land ist schwach. Die Inflationsrate Englands liegt bei 4,5 Prozent des BIP – unheimlich hoch für eine Wirtschaft, die nicht wächst. Die Zahl der Arbeitslosen steigt weiter, das Pfund geht nach unten. England kann Geld drucken und die Währung abwerten. Je stärker, desto mehr Ausländer kommen ins Land.

Das Weltkapital liegt längst nicht mehr in den Händen der USA oder Englands, sondern in Asien, dem Nahen Osten oder auch in Russland. Die sogenannte Alte Welt sinkt wie ein Unterseeboot, die Emerging Markets legen zu. Der Yen und der Renminbi werden – noch – keine Leitwährung werden. Der Investor hat also die Wahl zwischen Euro, Dollar oder Pfund. Ich rate zur Diversifikation.

derStandard.at: Wie geht es heute mit der Finanzmetropole London weiter?

Rogge: In London wird sich nichts ändern. Die Stadt ist wie Sodom und Gomorrha: Hier trifft sich der Wohlstand der Welt – der legale wie der illegale. Ein Beispiel: Die Olympischen Spiele wurden mit 2,3 Milliarden Pfund veranschlagt. Diese Summe wurde vom Parlament genehmigt. Nach neun Monaten waren es bereits 9,3 Milliarden Pfund. Und was sagt das Parlament dazu? "We are now on budget" – welche Frechheit! Gleichzeitig wurde der Mann, Sebastian Coe, der die Veranstaltung mit den ursprünglichen 2,3 Milliarden eingefädelt hatte, zum Lord gemacht. Vor 100 Jahren hätte er seinen Kopf verloren.

derStandard.at: Paris wird nie die Finanzmetropole werden. Warum?

Rogge: London lebt, ohne es zu wissen, von der englischen Sprache – seinem größten Exportartikel – und von seinen Steuerkonzessionen. London ist ein großer Bankenplatz, doch die Beschäftigten in der Bankindustrie kommen aus aller Welt. England an sich ist ein trauriger Fall. Die Engländer können nichts produzieren, sie sind keine langfristigen Investoren. In den letzten 50 Jahren haben sie so viel erfunden wie kaum ein anderes Land, verwertet wurden die Ideen meistens von den Japanern, Amerikanern oder Europäern. Engländer denken nicht langfristig – ähnlich wie viele Afrikaner: Anstatt ein Land nach der Ernte wieder zu bepflanzen, ziehen sie als Nomaden weiter.

derStandard.at: Sollte die EZB stärker eingreifen, um den Euro zu stützen?

Rogge: Nein. Die EZB soll sich aus der Währung heraushalten. Sie hatte zwar bislang großen Erfolg damit, durch ihre LTRO (Long-term Refinancing Organisation, Anm.) den Banken für drei Jahre Geld zu leihen. Das ist aber Make-up für die Institute, denn kurzfristig können sie dadurch ihre Bilanz verschönern, die Probleme sind dadurch jedoch nicht gelöst.

derStandard.at: In den USA sieht es ähnlich aus ?

Rogge: Es heißt immer, das Wachstum in den USA liege bei drei bis vier Prozent. Eine unserer Studien belegt, dass der Anstieg der Schulden weitaus höher liegt: Für einen Dollar Volkswirtschaftswachstum brauchen die Amerikaner de facto vier Dollar an Schulden. Das normale Wachstum in der Alten Welt ist vorbei.

derStandard.at: US-Notenbankchef Ben Bernanke kündigte kürzlich an, den Leitzins bis Ende 2014 auf einem Rekordtief zu belassen. Eine gute Entscheidung?

Rogge: Die Entscheidung ist erstaunlich und zeigt die Panik der Amerikaner. In England sieht es ähnlich aus: Auch Mervyn Allister King (Chef der Bank of England, Anm.) hat diese Zinspolitik angedeutet. Doch wie definiert man Optimisten? Ein Mann springt aus dem 50. Stock eines Hochhauses. Bei jedem Stockwerk, an dem er vorbeikommt, sagt er: "So far, so good" (So weit, so gut, Anm.). Amerikaner mögen den Schmerz nicht, sie sagten bereits 2007/2008: "No pain for us, we double up the debts" (sinngemäß: bloß keine Schmerzen, wir verdoppeln die Schulden, Anm,). Die USA wollen den Schuldenberg durch Wachstum reduzieren. Rein theoretisch haben sie damit recht, in der Praxis aber steigen die Schulden seit 30 Jahren stärker als das Wachstum der Volkswirtschaft. Eine Tatsache, die die Politiker der Bevölkerung verschweigen. Bernanke hatte wohl keine andere Wahl, er konnte nur reagieren.

derStandard.at: Was wäre eine Alternative zur Nullzinspolitik?

Rogge: Geld ist vorhanden, es muss nur investiert werden. Und zwar so, dass man es auch irgendwann wieder zurückbekommt. Infrage kommen entweder Regierungsanleihen oder Investments in globale Gesellschaften, die so viel Geld haben wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Die US-Unternehmensbilanzen weisen 2,3 Billionen Dollar in Cash auf – doch die Konzerne weigern sich aufgrund der ungewissen Zukunft zu investieren – selbst mit Steuerbegünstigungen.

derStandard.at: Zurück nach Good Old Europe. Wie schätzen Sie die Position Angela Merkels ein?

Rogge: Merkel hat schlechte Karten. Einige meinen, zuerst hätten die Deutschen andere Länder durch einen Krieg übernehmen wollen, jetzt versuchten sie es auf volkswirtschaftliche Art. Sobald Italien, Spanien und andere Länder abgewertet haben, tönte es immer "die bösen Deutschen". Die deutsche Wirtschaft steht besser da als die in anderen Ländern, weil es dort ein besseres Bildungssystem gibt. Deutsche denken langfristiger, arbeiten mehr und erwarten weniger als die Südeuropäer. Merkel sollte also nicht mit 17 Ländern reden, sondern mit den fünf größten. Es ist ausgeschlossen, kleinen Ländern, die nur an sich denken, dieselbe Stimme zu geben wie den großen. Das ist unfair gegenüber der Mehrheit, unfair gegenüber den Deutschen, die so viel einzahlen. Selbst in Amerika haben größere Bundesstaaten mit mehr Kongressabgeordneten mehr Mitspracherecht. "Ein Land, eine Stimme" ist schlichtweg falsch. Länder wie jüngst Kroatien sollten der Eurozone erst gar nicht beitreten.

derStandard.at: Ist das durchsetzbar?

Rogge: Es muss durchsetzbar sein, sonst hat Europa keine Zukunft. Es ist unmöglich, 27 Meinungen auf den Tisch zu legen und alle zufriedenzustellen. Die EU-Führungsriege muss die Entscheidung treffen, was für die Mehrheit der Bevölkerung gut ist und nicht für einen kleinen Teil, egal ob reich oder arm. Wir leben heute keine Demokratie, denn die, die am wenigsten leisten, bekommen die meisten Anteile. (ch, derStandard.at, 30.1.2012)