Frank Hoffmann ist Gynäkologe in Duisburg. 2006 hat er die Initiative "discovering hands" ins Leben gerufen, die von Ashoka, der weltgrößten Organisation zur Förderung von "Social Entrepreneurs", unterstützt wird. Seit 2012 wird die Initiative als gemeinnützige Unternehmensgesellschaft in Deutschland fortgesetzt.

Foto: Standard/Matthias Cremer

STANDARD: Wie kamen Sie auf die Idee, blinde Frauen zur Untersuchung der weiblichen Brust im Rahmen der Brustkrebs-Früherkennung auszubilden?

Hoffmann: Die Idee ist aus meinem täglichen Tun als Gynäkologe entstanden. Im Rahmen der Brustkrebsvorsorge ist für alle Frauen ab dem 30. Lebensjahr beim Routine-Check eine Tastuntersuchung der Brust vorgesehen. Dabei geht es darum, Knoten in der Brust sehr früh zu erkennen, um so die lebensgefährliche Metastasierung zu verhindern. Die Tastuntersuchung ist bei Frauen unter 50 Jahren dafür die Basis der Vorsorge. Mich hat als Arzt geärgert, dass ich in der relativ kurzen Zeit, die mir bei einer Untersuchung in der Praxis zur Verfügung steht, ein abschließendes Urteil darüber fällen soll, ob die Brust nun in Ordnung ist oder nicht. Mein Gedanke war also: Wie lässt sich diese Tastuntersuchung optimieren. Mein Ziel war, hier ein strukturiertes Verfahren zu entwickeln, bei der ausreichend Zeit zur Verfügung steht und der Untersucher über bestmögliche Tastfähigkeiten verfügt. So kam ich auf Blinde. Ihre Behinderung ist in diesem Kontext also eine Begabung.

STANDARD: Wie schwierig ist es, Brustkrebs zu erkennen?

Hoffmann: Der Tasteindruck, den so eine Untersuchung vermittelt, ist so individuell wie jede Frau selbst. Es gibt keinen einheitlichen Tasteindruck. Er ist abhängig vom Zyklus, der Hormonsituation, vom Bindegewebsstatus selbst, von der Größe der Brust. Die Herausforderung bei einer Tastuntersuchung ist, zu erkennen, was im Rahmen dessen, was normal ist, das Besondere, das Auffällige ist. Man achtet auf die Unregelmäßigkeit. Brustkrebs kann sich wie ein harter Knoten oder eine Verdichtung anfühlen, er kann aber auch eine Art Architekturstörung sein, dass also im Gesamtverbund der Brust eine bestimmte Stelle sich vom Rest unterscheidet. Oft sind solche Tastbefunde auch gutartige Veränderungen.

STANDARD: Wie lange dauert diese Untersuchung durch den Arzt?

Hoffmann: Wir Gynäkologen haben nicht mehr als ein paar Minuten Zeit für diese Untersuchung. Das ist nicht optimal und lässt sich mittlerweile auch belegen. Ärzte finden im Rahmen der routinemäßigen Tastuntersuchung Tumoren üblicherweise ab einem Durchmesser von 1,5 bis zwei Zentimetern. Die Tastauffälligkeiten, die Blinde entdecken, liegen zwischen sechs und acht Millimetern. Das haben unsere Erfahrungen der letzten Monate gezeigt. Das heißt also: Das, was wir als Ärzte leisten, ist nicht gut genug. Generell wissen wir ja auch, dass 80 Prozent der Tastauffälligkeiten von den Frauen selbst entdeckt werden.

STANDARD: Die Gynäkologin Maria Hengstberger in Wien hat eine ähnliche Methode vor 25 Jahren entwickelt.

Hoffmann: Genau, das stellte ich bei meinen ersten Internetrecherchen zum Thema im Jahre 2004 ebenfalls fest. Soweit mir bekannt, ist sie die Einzige weltweit, die in diese Richtung gedacht hat. Wir haben uns vor Jahren auch getroffen. Mittlerweile engagiert sich Maria Hengstberger stark in der Entwicklungshilfe. Meine Methode unterscheidet sich von ihrer damaligen.

STANDARD: Inwiefern?

Hoffmann: Für Maria Hengstberger war die Untersuchung der Brust durch die sogenannten "blinden Brustschwestern" eine Alternative zur Selbstdiagnose. Meine Idee war aber, Blinde zu ärztlichen Hilfskräften ausbilden. Maria Hengstberger hat diese Frauen in ihrer Praxis eingesetzt, aber niemals ein strukturiertes Ausbildungsprogramm aufgesetzt.

STANDARD: Wie ist Ihr Ausbildungskonzept?

Hoffmann: Wir haben ein eigenes Tastverfahren entwickelt. Dabei war mir eine belegbare Untersuchungsmethodik wichtig, die den Befund quadratzentimetergenau auch im Nachhinein ortbar macht. Wir haben also mit öffentlicher Unterstützung ein Curriculum für die Ausbildung zusammen mit dem Berufsförderungswerk entwickelt. So konnten wir die Lehrmittel und patentierte Orientierungsstreifen für die Klinische Brustuntersuchung durch Blinde erarbeiten.

STANDARD: Wozu Orienterungsstreifen?

Hoffmann: Sie sind mit haptischen Markierungen ausgestattet und werden an Brustbein, Mamille und an der seitlichen Brustwand aufgeklebt. Sie sind eine Orientierungshilfe, ein Koordinatensystem, das die Untersuchung nicht nur sehr exakt, sondern auch für andere zu jedem Zeitpunkt nachvollziehbar macht. Das gewährleistet die fehlerfreie Kommunikation zwischen der Medizinischen Tastuntersucherin (MTU) und dem Arzt. Derzeit sind 14 MTUs in Deutschland im Einsatz. Sie sind zum Teil fest in Praxen angestellt oder arbeiten als Freelancer. Eine Unter- suchung kostet 35 Euro und wird von vier deutschen Krankenkassen bereits über-nommen.

STANDARD: Wer trägt die Verantwortung?

Hoffmann: Der Arzt verantwortet die Untersuchung. Das ist schon aus Haftungsgründen notwendig. MTUs erweitern die diagnostischen Möglichkeiten des Gynäkologen und sind für Patientinnen ein Zeichen dafür, dass mit großer Sorgfalt untersucht wird. Natürlich wissen die MTUs sehr genau über Brustkrebs Bescheid, können während der 30- bis 60-minütigen Untersuchung auch vieles erklären - zum Beispiel zu Mammografie-Screenings. Für Patientinnen ist das nicht alles immer so einfach zu verstehen.

STANDARD: Ist diese Art der Untersuchung eine Konkurrenz zur Mammografie?

Hoffmann: Nein, wir wollen nur die Tastuntersuchung verbessern. Wenn es da einen Befund gibt, folgen Ultraschall und Mammografie. Abgesehen davon gibt es Formen von Mikroverkalkungen, die auch die MTUs nicht ertasten können. Alle drei Diagnose-Optionen sind wichtig: Tasten, Ultraschall und Röntgen beziehungsweise Mammografien im Rahmen von Brustkrebs-Screenings. Wenn Zweifel bestehen, wird eine Biopsie gemacht. Die endgültige Krebsdiagnose stellt der Pathologe. Wir haben hierfür präzise Leitlinien. Die Tastuntersuchung ändert daran nichts.

STANDARD: Wollen Sie die Idee auch nach Österreich bringen?

Hoffmann: Natürlich. Wir haben allerdings gerade erst eine Basis in Deutschland geschaffen und sind dabei, unsere Idee populär zu machen. Dabei geht es auch um Überzeugungsarbeit bei den Kollegen. Grundsätzlich gilt aber: Das komplette Lehrmaterial und die Unterlagen gibt es auf Deutsch, es wäre also naheliegend, den Schritt über die Grenze zu wagen. (Karin Pollack, DER STANDARD, Printausgabe, 30.1.2012)