Wien - Die Schuldenkrise stoppt nicht an den Grenzen der Euroländer. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) bestätigte gestern in Wien ihren negativen Ausblick für Mittel- und Osteuropa sowie Zentralasien und rechnet 2012 mit einem durchschnittlichen Wachstum von 3,1 Prozent. Im Vorjahr dürfte die Region 4,8 Prozent gewachsen sein.

Besonders in Staaten mit starker wirtschaftlicher Verflechtung zur EU sieht die EBRD für 2012 Wachstumseinbrüche. Ungarn und Slowenien werden ihrer Einschätzung nach sogar in eine Rezession abdriften und um 1,5 bzw. 1,1 Prozent schrumpfen. Dem baldigen EU-Mitglied Kroatien wird ein schwaches Wachstum von rund einem Prozent prognostiziert, im Durchschnitt sollen zentraleuropäische und baltische Staaten um nur 1,4 Prozent wachsen, das sind zwei Prozentpunkte weniger als 2011.

"Die Liquiditätsprobleme der EU-Staaten haben die Situation komplett verändert", so der stellvertretende EBRD-Chefökonom Jeromin Zettelmeyer. Auch in Südosteuropa und den Ländern am Kaukasus gehen die Experten der Entwicklungsbank davon aus, dass die Turbulenzen in der Eurozone weitere Kreise ziehen werden. Eine Rezession sei auf Basis der aktuellen Zahlen zwar in keinem anderen Land der Region zu erwarten, jedoch verweist man auf die nach wie vor nicht beschlossenen Lösungsinstrumente für die Eurokrise und die dadurch verursachte Instabilität.

EU belastet

Als Hauptgründe für den pessimistischen Ausblick führt die EBRD Faktoren an, die alle in enger Verbindung zu Entwicklungen in den EU-Kernländern stehen. Zum einen ging das reale Wachstum der Kreditvolumina zurück. Das weist auf Finanzierungsschwierigkeiten von Unternehmen hin und könnte das fragile Wirtschaftswachstum unterlaufen. Laut EBRD ist auch die relativ große Anzahl an notleidenden Krediten konstant geblieben.

"Das ist klare Evidenz für eine Kreditklemme", so Zettelmeyer. Im Vorjahr habe sich das zwar noch nicht auf die Wachstumszahlen ausgewirkt, aber für 2012 ist er pessimistischer gestimmt: Die Aktienmärkte in der Region zeigen einen Abwärtstrend. Und zum ersten Mal seit Anfang 2009 ist wieder mehr Kapital aus der Region abgeflossen, als durch ausländische Investitionen hereinkam. Mehr als 80 Prozent der Finanzinstitute in Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Ungarn, der Slowakei und Rumänien sind im Eigentum von Banken aus der Eurozone. Viele von ihnen reduzieren momentan ihre Engagements im Ausland und führen damit zu einer Verschärfung der Kreditkonditionen in jenen Ländern.

Optimistischer beurteilt die EBRD übrigens die wirtschaftliche Lage in Zentralasien. Kasachstan, Usbekistan und die anderen Staaten der Region sollen 2012 um durchschnittlich sieben Prozent wachsen.

Auswirkungen auf Werte

In einem weiteren Bericht zeigte die Entwicklungsbank auf, dass die Finanzkrise und die europäische Schuldenkrise eindeutige Spuren im Alltagsleben der betroffenen Personen hinterlassen haben. Dünne soziale Sicherheitsnetze führten in den Transitionsländern zu Jobverlusten, Unterversorgung mit Nahrungsmitteln und verspäteten Zahlungen. Auch auf Wertesysteme scheint die Krise Auswirkungen zu haben: Die Zustimmungswerte zu demokratischen und marktwirtschaftlichen Prinzipien sank in einigen Ländern ab. (difk, sulu, DER STANDARD, Printausgabe, 1.2.2012)