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Protest gegen Kastenstandhaltung von Schweinen: Martin Balluch 2011 auf Wiens Stephansplatz.

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Thomas Macho: Der Mut zum Perspektivenwechsel macht den Humanisten aus.

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Raskolnikow träumt. Er träumt von einem Ereignis, das er als Junge erlebt hatte: Der Fuhrmann Mikolka erschlägt sein Pferd mit einer eisernen Brechstange, nachdem er es ausgepeitscht - auf die Augen, auf das Maul - und mit der Deichselstange drangsaliert hat. Die Menge johlt. "Aber der arme kleine Junge ist außer sich. Schreiend bahnt er sich einen Weg durch die Menge, läuft zu der Braunen hin, umarmt ihren leblosen, blutüberströmten Kopf und küsst sie auf die Augen und auf die Lippen. (...) 'Ach, Papa! Wofür haben sie ... das arme Pferdchen ... erschlagen!' schluchzt er, aber sein Atem stockt, und die Worte entringen sich als Schrei seiner beklemmten Brust."

Mehr als zwei Jahrzehnte nach der Veröffentlichung des Romans Verbrechen und Strafe (1866) erlebt ein begeisterter Leser Dostojewskis - am 13. Februar 1887 hatte er aus Nizza an Heinrich Köselitz geschrieben: "Kennen Sie Dostoiewsky? Außer Stendhal hat Niemand mir so viel Vergnügen und Überraschung gemacht: ein Psychologe, mit dem 'ich mich verstehe'" - die gleiche Szene noch einmal. Am 3. Januar 1889 verlässt Friedrich Nietzsche sein Haus in der Via Carlo Alberto in Turin. In der Nähe kämpft ein Kutscher mit seinem störrischen Pferd; er verliert die Geduld und schlägt das Tier. Nietzsche sieht diese schreckliche Szene, läuft auf die Kutsche zu, wirft sich dem Pferd weinend um den Hals. Sein Vermieter bringt ihn nach Hause, wo er zwei Tage still und regungslos liegenbleibt, bevor er die bekannten Worte sagt: "Mutter, ich bin dumm." - Nietzsche lebte danach noch zehn stille Jahre; er starb am 25. August 1900, im Alter von 55 Jahren.

Die Erzählung dieser Geschichte bildet - bei schwarzer Leinwand - den Beginn des letzten Films, den der ungarische Regisseur Béla Tarr gedreht hat; er wurde am 15. Februar 2011 auf der 61. Berlinale uraufgeführt und mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet. Die Erzählung mündet in eine Frage. Wir wissen, was nach dem 3. Januar 1889 mit Nietzsche geschehen ist; wir wissen nichts vom Schicksal des Pferdes. Béla Tarrs Film erzählt vom Leben und Sterben dieses Pferdes, unter dem Titel: A Torinói Ló (The Turin Horse). Die Frage Béla Tarrs - was geschah mit dem Pferd von Turin? - akzentuiert einen Perspektivwechsel, der sich auch in den Credits manifestiert: Nach den Namen der drei Schauspieler - János Derzsi, Erika Bók und Mihály Kormos - erscheint der Name des Pferdes auf Leinwand und Filmplakat: Ricsi.

Perspektivwechsel

Ein solcher Perspektivwechsel, der sich weigert, die Tiere bloß als Requisiten menschlicher Geschichte wahrzunehmen, ist charakteristisch für das bisherige Leben und Werk des Österreichers Martin Balluch. In zahlreichen Artikeln und Einträgen im Internet wird er als "Aktivist" im Kampf um Tierrechte und Tierschutz bezeichnet; dabei wird freilich gern verschwiegen, dass dieser sogenannte "Aktivismus" das Ergebnis jahrelanger Studien der Naturwissenschaften und der Philosophie darstellt. Martin Balluch hat zunächst Mathematik, Physik und Astronomie an der Universität Wien studiert; im Jahr 1989 wurde er an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg zum Doktor der Physik promoviert.

Tierrechte und ihre Basis

Danach arbeitete er von 1990 bis 1997 als Universitätsassistent im Department of Applied Mathematics and Theoretical Physics an der Cambridge University. Eine zweite Promotion - im Fach Philosophie - folgte im Jahr 2005. Balluch hatte eine Dissertation zur Tierethik verfasst, die 2005 unter dem Titel Die Kontinuität von Bewusstsein. Das naturwissenschaftliche Argument für Tierrechte im Wiener Verlag Guthmann-Peterson publiziert wurde. 

In diesem Werk vertritt Martin Balluch - auf Grundlage logischer Argumente, aber auch unter Bezug auf aktuelle Beobachtungen und Experimente, von der Ethologie bis zur Neurobiologie - eine Haltung, die ich als "inklusiven Humanismus" charakterisieren will. Anders als der Anthropologie des 19. Jahrhunderts ging es dem Humanismus der Renaissance nicht um starre Grenzen zwischen Tieren, Menschen oder Engeln, sondern vielmehr um eine Great Chain of Being, wie sie Arthur O. Lovejoy in den William James Lectures von 1933 rekonstruierte. 

Schimpanse ohne Dokumente

"Inklusiv" ist daher ein Humanismus mit offenen Grenzen, der weder den Frauen noch den Kindern, weder den sogenannten Behinderten noch den sogenannten Wilden Rechte verwehren will: im Sinne einer Kritik an Rassismus und Sexismus, die notwendig zur Kritik am Speziesismus gesteigert werden kann, zur Kritik an Schlachthöfen, Pelz- und Mastfarmen, Tierparks oder Human Zoos, wie sie gegenwärtig in einer lehrreichen Ausstellung des Pariser Musée du Quai Branly gezeigt werden.

Inklusiver Humanismus? Zwei Jahre nach seiner Promotion zum Philosophen stellte Martin Balluch den gerichtlichen Antrag, als Sachwalter für den Schimpansen Hiasl (im Wiener Tierschutzhaus) anerkannt zu werden. Das Bezirksgericht lehnte den Antrag ab, weil der Schimpanse nicht über die nötigen Personaldokumente (Geburtsurkunde, Aufenthaltserlaubnis) für die Zuteilung eines Sachwalters verfüge; das Landesgericht (in zweiter Instanz) argumentierte dagegen, der Schimpanse sei ja nicht behindert, weshalb er keinen Sachwalter brauche.

Der Oberste Gerichtshof sprach schließlich dem Philosophen die Berechtigung ab, solche Anträge überhaupt zu stellen; und wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilen wird, muss erst noch abgewartet werden. - Die Revanche der Justiz erfolgte rasch. Ein Jahr nach der Auseinandersetzung um Hiasl, am 21. Mai 2008, wurde Martin Balluch, gemeinsam mit zehn weiteren Akteuren der Tierrechtsbewegung, aufgrund des Vorwurfs der "Bildung einer kriminellen Organisation", die unter dem Decknamen Animal Liberation Front operiere, für mehr als drei Monate in Untersuchungshaft genommen. Nach einem weiteren Jahr, am 2. Mai 2011, wurden alle Angeklagten freigesprochen.

Teure Bereitschaft zur Öffnung der Grenzen

Die Haltung, die ich - vielleicht etwas hölzern - als inklusiven Humanismus bezeichnet habe, bezeugt jenen Geist praktizierter Generosität, den die Initiatoren des Myschkin-Preises ehren wollten: einen Geist der Empathie, der Anerkennung und Verzeihung, aber auch jenes traumatischen Entsetzens, das Nietzsche in Turin und den russischen Fürsten an der Bahre der ermordeten Nastassja überfiel. Die Bereitschaft zur Öffnung der Grenzen muss manchmal teuer bezahlt werden, sei es in Schweizer Sanatorien oder auch im Untersuchungsgefängnis von Wiener Neustadt. Sie verdient gerade darum unseren höchsten Respekt. (DER STANDARD, Printausgabe, 30.1.2012)