Bild nicht mehr verfügbar.

Willenlose Marionetten oder selbstbewusste Volksvertreter: Theorie und Realität klaffen im Nationalrat auseinander.

Foto: dapd/Punz

Verfolgt man eine Sitzung des Nationalrates, so befällt einen oft das Gefühl, Marionetten vor sich zu haben. Für die Kameras ein Debatten- und Zwischenruftheater, auf den Bänken Abgeordnete, die sich langweilen, weil sie ohnehin längst wissen, wie sie gehorsamst abzustimmen haben. Das war, als sich die neue Republik 1920 eine Verfassung gab, so nicht vorgesehen. Zur Vorstellung von repräsentativer Demokratie gehörte unverzichtbar die Freiheit des Mandats.

Sie ist in Art. 56 (1) des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG) definiert: "Die Mitglieder des Nationalrates und die Mitglieder des Bundesrates sind bei der Ausübung dieses Berufes an keinen Auftrag gebunden." Die Abgeordneten werden zwar von den Parteien ausgesucht und vom Volk gewählt, dürfen aber nicht auf Vorgaben verpflichtet werden, sondern sollen unabhängig und nur ihrem Gewissen verantwortlich sein, wenn sie im Parlament das Wort ergreifen oder abstimmen.

Wie kann es dann einen Klubzwang geben? Es gibt ihn, weil Art. 56 nicht sagt, was passieren soll, wenn er verletzt wird. Es gibt keine Strafbestimmungen, und vertrauliche Absprachen hinter Polstertüren sind keine Akte, die man mit Rechtsmitteln bekämpfen könnte. Außerdem wird sich ein Abgeordneter hüten, mit offenem Visier einem Beschluss seiner Fraktion die Gefolgschaft zu verweigern, wenn er seine Karriere nicht gefährden will. Ältere Wähler werden sich noch an den Blanko-Mandatsverzicht erinnern, den Abgeordnete "freiwillig" bei ihren Parteien hinterlegen mussten und in den nur das Datum einzutragen war, wenn man einen Abweichler loswerden wollte.

Wie es zugehen müsste, damit das freie Mandat auch wirklich frei ist, kann man dem Art. 26 (1) B-VG über die Wahl des Nationalrates und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes entnehmen: Dort wird für die Wahl das gleiche, unmittelbare, persönliche, freie und geheime Wahlrecht festgelegt. Der Verfassungsgerichtshof hat in mehreren Erkenntnissen zu Art. 26 in über den Anlassfall hinausgehender Verallgemeinerung klargemacht, dass sich geheime und freie Abstimmung zueinander verhalten wie Mittel und Zweck: nur eine geheime Abstimmung kann eine freie Abstimmung sein. So erklärte er 1960 z. B.: "... nur der u n b e o b a c h t e t e Wähler [kann] sein Wahlrecht frei und ohne Hemmung ausüben ...".

Wie im Nationalrat abgestimmt werden soll, steht nicht in der Verfassung, sondern in einem einfachen Gesetz: dem Geschäftsordnungsgesetz 1975. Dort heißt es in § 66: "Die Abstimmung findet in der Regel durch Aufstehen und Sitzenbleiben statt." Wird elektronisch abgestimmt, so muss erkennbar sein, wer wie gestimmt hat. Eine geheime Abstimmung ist zwar möglich, kann aber nur vom Nationalrat und nur öffentlich beschlossen werden. § 66 der Geschäftsordnung des Nationalrates sieht die Kontrolle des Abstimmungsverhaltens ausdrücklich vor und verhindert so - man kann sagen: vorsätzlich - das freie Stimmrecht der Abgeordneten. Dieses Gesetz schafft die Voraussetzung dafür, dass verfassungswidrige, durch ein Rechtsverfahren nicht abwendbare Bindungen der Abgeordneten an Aufträge möglich werden und tatsächlich die Regel sind; es ist daher selbst verfassungswidrig.

Österreich ist nicht das einzige Land mit einer Proporzdemokratie und einer Dominanz der Parteien über das Parlament. In allen diesen Parlamenten sind, soweit ich weiß, öffentliche Abstimmungen die Regel. Ein geheimes Votum für den österreichischen Nationalrat zur Pflicht zu machen wäre also auch eine Pioniertat.

Auf Hans Kelsens Spuren

Es wäre nicht die erste: Nach dem Untergang der Monarchie wurde mit der republikanischen Verfassung in Österreich auf Initiative Hans Kelsens der Verfassungsgerichtshof mit der damals einzigartigen Kompetenz ausgestattet, auch verfassungswidrige Gesetze aufzuheben und damit nicht nur die Behörden in der Vollziehung, sondern auch das Parlament als Gesetzgeber wirksam an die Verfassung zu binden.

Und was ist mit den Wählern und ihrem Interesse an der parlamentarischen Arbeit? Nun, einem Parlament mit freien Parlamentariern zuzusehen ist sicher spannender als Scheindebatten vor einer Abstimmung, deren Ergebnis von vornherein feststeht.

Von der hier behaupteten Verfassungswidrigkeit sind alle Abgeordneten zum Nationalrat unmittelbar betroffen. Jeder Mandatar hat daher das Recht, direkt beim Verfassungsgerichtshof dagegen die Individualbeschwerde einzubringen. Wer wagt es? (Peter Warta, DER STANDARD, Printausgabe, 2.2.2012)