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Bis zu vier Pinocchios können auf The Fact Checker, dem Portal der "Washington Post", für Falschaussagen verliehen werden. Durch die rasante Weiterentwicklung der Online-Faktenprüfung stehen inbesondere Politiker zunehmend unter Druck.

Foto: Rainer Jensen/EPA

Der Präsidentschaftswahlkampf wird in den USA 2012 das große Medienthema sein. Bereits jetzt machen sich die ersten Auswirkungen der demokratiepolitisch intensiven Zeit auf den Journalismus bemerkbar. Wie Pilze schießen neue Fact-Checking-Portale aus dem Boden, die zumeist auf der Grundlage von Crowdsourcing die Richtigkeit öffentlicher Aussagen überprüfen und darüber publizieren.

FactCheck.org, 1993 vom Annenberg Policy Center gegründet, und die 2009 mit einem Pulitzerpreis ausgezeichnete Plattform politifact.com der "Tampa Bay Times" haben es bereits geschafft, sich in der amerikanischen Medienwelt als Institutionen für mehr Transparenz zu etablieren. Regelmäßig werden ihre Berichte von meinungsbildenden Nachrichtensendern wie CNN als Quelle zitiert und lösen mit ihren Ergebnissen landesweite Diskussionen und Folgeberichte aus.

"Vatikan der Wahrheitsfindung"

Der Siegeszug des Fact-Checking setzte Anfang des 20. Jahrhunderts ein, als objektive Berichterstattung Bestandteil des Ehrenkodex wurde. In den 1920er Jahren installierte Edward Kennedy, Herausgeber des Magazins "Time", die erste Fact-Checking-Abteilung neben der eigentlichen Redaktion. 1927 folgten der "New Yorker", der inzwischen den Ruf als "Vatikan der Wahrheitsfindung" genießt, sowie die "New York Times", "Esquire", "The Atlantic", "Forbes" und "Newsweek". Die größte Fact-Checking-Abteilung weltweit unterhält derzeit der "Spiegel" mit achtzig vollzeitbeschäftigten Mitarbeitern, für "Spiegel Online" ist laut dem Netzwerk Recherche jedoch nur eine Mitarbeiterin abgestellt.

Online hilft sich selbst

Im Gegensatz zu den mit Spezialisten gespickten Fact-Checking-Teams der Printgiganten bedient sich Online vielfach der Intelligenz der Masse. Die Netzgemeinschaft kann sowohl Vorschläge für überprüfenswerte Sager einbringen als auch an der Beweisführung mitarbeiten. Die Vorteile von digitaler Interaktion in Echtzeit führen auch in der Ergebnisdarstellung zu neuen Möglichkeiten. Berühmt-berüchtigt ist der Truth-o-Meter auf politifact.com, der neben jeder untersuchten Aussage im Grün-Rot-Spektrum anzeigt, welchen Wahrheitsgehalt die Nachforschungen ergeben haben. Einen Klick weiter kann die gesamte Argumentationslinie nachgelesen und diskutiert werden.

Bereit fürs nächste Level

Fact-Checking tritt nach jahrezehntelangem Schattendasein als Zuarbeiter der Redakteure ins Licht der Öffentlichkeit, was zunehmend Auswirkungen auf Selbstwahrnehmung und Grundkonzepte zeigt. Dem traditionellen Rollenbild folgend, klärt ein guter Fact-Checker fragwürdige Angaben und weist auf Fehler hin, niemals jedoch stellt er jemanden an den Pranger. Bei den Crowdsourcing-Projekten im Internet verhält sich die Sache schon ganz anders. So wird beispielsweise jährlich von politifact.com der "Lie of the Year"-Award vergeben, 2011 ging er an den demokratischen Sager "Republicans voted to end Medicare". Der "Economist" legte daraufhin in einem Blog mit dem Titel "Fact-checking the fact-checkers" dar, dass diese Aussage nicht eindeutig als Wahrheit oder Lüge zu klassifizieren sei, was in Folge das weite philosophische Feld zur Suche nach Wahrheit und sinnstiftenden Konsequenzen aufmacht. Die Diskussion hat inhaltlich auch bereits die Zeitungsredaktionen erreicht, stellt sich doch immer öfter die Frage, ob bewiesene Falschaussagen bereits in der objektiven Berichterstattung erwähnt oder weiterhin in Extrakolumnen abgehandelt werden sollten. Die Meinungen gehen derzeit noch weit auseinander.

Transparenz ist die neue Objektivität

Craig Silverman, Autor des Buches "Regret the Error", berichtete kürzlich bei einer von Star-Blogger Jeff Jarvis initierten Fact-Checking-Konferenz von einem verstärkten Aufrüstungstrend beim Online-Fact-Checking, nachdem immer mehr traditionelle Publikationen entsprechende Abteilungen auslagern oder schließen. Silverman nimmt an, dass sich in Zukunft noch mehr kollaborative Systeme herausbilden werden, die durch die Kombination von menschlichem Einschätzungsvermögen und maschineller Intelligenz komplett neue Möglichkeiten für den Journalismus eröffnen. Der Blogger und Autor Ken Layne bringt die provokante Attitüde der Crowdsourcing-Bewegung auf den Punkt: "We can fact check your ass!"

Werkzeuge in Entwicklung

Neben den etablierten Plattformen sind auch interaktive Tools im Entstehen, die das Eingreifen in den Text bzw. Korrekturen schon vor Ort ermöglichen sollen. So plant etwa das in Deutschland vorgestellte Projekt Corrigo, falsche Angaben auf Newsseiten zu identifizieren und für Korrektur zu sorgen. Das Tool schlägt in die Argumentationskerbe derjenigen, die schon lange neben jedem Online-Artikel Korrekturfelder für User fordern.

Auch das in Berkeley entwickelte Tool Dispute Finder, das auf Think Link basiert, plant spannende Möglichkeiten, um kontroversielle Aussagen zu überprüfen oder zu relativieren. User füttern die Dispute-Finder-Datenbank mit fragwürdigen Behauptungen, die daraufhin in den digital gelesenen Texten aller eingeloggten Users markiert werden. Um der Wahrheit selbst auf den Grund gehen zu können, wird neben der markierten Stelle eine Linkliste eingeblendet, die von Usern erstellt und gerankt wird. Interessiert ein Thema nicht, kann der User das per Klick kundtun und das System merkt sich die Präferenzen für die nächsten Anwendungen.

Automatisierung der Wahrheit

Bevor Fact-Checking in den Alltag jedes digitalen Zeitungslesers Eingang findet, sind jedoch noch grundlegende Fragen zu klären: Wer definiert die Wahrheit und lässt bei Bedarf Raum für Diskussionen? Wie kann man mit statistischen Verzerrungen in Datensätzen und im Crowdsourcing selbst umgehen? Was passiert, wenn die Werkzeuge falsch eingesetzt werden? Wie werden die neuen Werkzeuge die Art verändern, wie Menschen Inhalte produzieren?

Die philosophischen Grundfesten müssen vielfach noch genauer definiert werden; dass diese Tools zukünftig wie selbstverständlich unseren Medienkosum beeinflussen werden, ist für Vordenker Steve Outing aber beinahe sicher: "Ich glaube, dass wir in 20 Jahren herausgefunden haben werden, wie man Qualität und Glaubwürdigkeit aus den abertausenden Nachrichtenquellen gezielt herausfiltern kann. Meine Nachrichtenwerkzeuge werden jeden gelesenen Artikel auf Fakten überprüfen und Unwahrheiten, Fehler und verzerrte Darstellungen markieren." (Tatjana Rauth, derStandard.at, 6.2.2012)