"Links und Rechts kann im Einzelfall sogar austauschbar sein", sagt Musolff über Extremisten.

Foto: privat

Andreas Musolffs jüngste Publikation handelt von den deutschen Terrorgruppen der 1970er-Jahre und davon, was sie mit der Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit zu tun haben: Der deutsche Linguist und Philologe, der seit 1990 in Großbritannien forscht und unterrichtet, geht dabei von der Sprachanalyse aus.

Musolff versucht, in den Texten der Terrorgruppen die Metaphern – Begriffe, die nicht im ursprünglichen Wortsinn allein verwendet werden, sondern darüber hinaus Bedeutung haben – zu entschlüsseln: ein Vorgehen, das ihm auch angesichts der "Judenvergleiche" von FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache zweckdienlich erscheint.

Standard: Seit Tagen wird in Österreich über Heinz-Christian Straches "Reichskristallnacht"-Äußerung diskutiert. Können Sie erklären, wie er dazu kommt, eine Demonstration gegen den WKR-Ball mit dem historischen, von oben angeordneten Pogrom gegen Juden im Jahr 1938 zu vergleichen?

Musolff: Das hat vor allem mit politischer Polemik zu tun. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs ist es verbreitet, den politischen Gegner mit den Nazis zu vergleichen – nicht nur in Österreich und Deutschland. Einer der Ersten, der das tat, war der britische Premierminister Winston Churchill, der die Labour-Partei im Wahlkampf 1945 des Gebrauchs von Gestapo-Methoden beschuldigte.

Standard: Im ORF-Interview nach den Äußerungen auf dem Ball hat Strache das Wort "Reichskristallnacht" ohne Distanzierung verwendet, obwohl es die Nazis waren, die diesen Begriff geprägt haben. Dafür wurde er kritisiert – zu Recht?

Musolff: Schon, denn ein solcher Sprachgebrauch ist typisch für Politiker wie Strache, die mit suggestivem, polemischem Vokabular operieren; anschließend berufen sie sich auf die Freiheit des Wortes. International läuft das unter dem Titel "politisch inkorrekt" – und betrifft auch viele andere rassistisch konnotierte Begriffe. So wird versucht, pauschal jede Art Kritik abzuwehren.

Standard: Die da lautet?

Musolff: Dass es sich, im Fall der "Reichskristallnacht", um einen Euphemismus, eine verharmlosende Wortwahl, handelt. Damit wird unterschlagen, dass 1938 in der bewussten Nacht hunderte von Menschen ermordet, tausende verhaftet wurden. Der ehemalige Präsident des deutschen Bundestags, Philipp Jenninger, musste 1988 sogar zurücktreten, weil er in seiner Rede zu den Novemberpogromen das Wort "Reichskristallnacht" distanzlos verwendet hat – und andere vom Gedankengut des Nationalsozialismus wenig emanzipierte Begriffe.

Standard: Jenninger sprach über die Pogrome, Strache sieht sich und die Seinen offenbar als deren Opfer, als die "neue Juden". Was sagen Sie dazu?

Musolff: Strache hat in dieser Situation offenbar so geredet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Er steht mit einem solchen Selbstmitleid nicht allein. Es gibt Vorläufer, sogar am entgegengesetzten Ende des politischen Spektrums: Die terroristische Rote Armee Fraktion und die Bewegung Zweiter Juni haben ebenfalls Täter-Opfer-Umkehr betrieben. Sie haben sich in ihren Texten immer wieder als Äquivalent der Kämpfer im Warschauer Getto gesehen – und die BRD, den Westen oder auch Israel als direkte Nachfolger der Nazis. Aus dem heraus haben sie eine Art Selbstverteidigungsrecht in Anspruch genommen.

Standard: Eint dieses Selbstmitleid extrem Rechte und Linke?

Musolff: Ja, denn solche Gruppen ziehen sich in ihre kleine extremistische Welt zurück. Links und rechts kann im Einzelfall sogar austauschbar sein. Man denke etwa an den Anwalt und RAF-Mann Horst Mahler, der später zur rechtsextremen NPD ging.

Standard: Ist die Vorstellung, Opfer statt Täter zu sein und ein Selbstverteidigungsrecht zu haben, potenziell gewaltträchtig?

Musolff: Auf jeden Fall. Wenn ich mir einbilde, in der Rolle eines verfolgten Juden zu sein, dann bin ich im allgemeinen Verständnis zu jeder Art von Gegenwehr berechtigt. Die Täter-Opfer-Umkehr ist so uralt wie der Fremdenhass, denn sie ermöglicht es, offensichtlich aggressives Verhalten zu legitimieren. Seit 1945 herrscht in Deutschland und Österreich in rechten Gruppen ein geradezu manischer Reflex, sich so darzustellen. Derlei Judenvergleiche gibt es auf vielen Neonazi-Websites.

Standard: Ist Strache also, wenn er sich und seine Leute zu "neuen Juden" zählt, den Neonazis nahe?

Musolff: Was diese Haltung angeht, ja. Das Interessante an diesen Aussagen ist, dass sie Einblick gewähren, wie das interne Diskursuniversum Straches und der Burschenschafter aussieht, die in Österreich ja zum Establishment gehören. Meiner Ansicht nach ist das sehr ernst zu nehmen. (Irene Brickner, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 4.2.2012)