
Maschinenbauingenieur Gerhard A. Holzapfel leitet das Institut für Biomechanik an der TU Graz.
Als Gerhard A. Holzapfel in den 1980er-Jahren Bauingenieurwesen studierte, konzentrierte sich sein Interesse zunächst auf Rohrsysteme in Atomkraftwerken. Dass er sich schließlich auf die Mechanik der "Rohre" im menschlichen Körper verlegte, war die Folge eines zweijährigen Forschungsaufenthalts an der amerikanischen Stanford University. Dort wurde er als Schrödinger- Stipendiat am "Department of Mechanical Engineering" erstmals mit Fragen der Biomechanik konfrontiert.
Junger Wissenschaftszweig
"Anfang der 1990er-Jahre war dieser Wissenschaftszweig in den USA schon stark im Kommen, während sich bei uns in diesem Bereich noch nichts bewegte", erinnert sich der promovierte Maschinenbauingenieur. Also sorgte er selbst für Bewegung und beantragte 1997 ein Startprojekt, das ihm prompt bewilligt wurde.
Rund eine Million Euro konnte er damit für das neue Forschungsfeld lukrieren - eine Investition, die sich mehr als bezahlt gemacht hat. Mittlerweile leitet Holzapfel das erste und bislang einzige österreichische Universitätsinstitut für Biomechanik an der TU Graz, ist neben einer Reihe anderer Auszeichnungen Inhaber des renommierten Erwin-Schrödinger-Preises und hat ein schlagkräftiges Forscherteam aufgebaut.
Eines der menschlichen "Rohrsysteme", mit denen sich die österreichischen Pioniere der Biomechanik befassen, ist die Aorta. In dieser größten Schlagader des Körpers können durch Veränderungen der Arterienwand Aneurysmen, also gefährliche Arterienerweiterungen, entstehen. "Üblicherweise muss sich der Patient einem chirurgischen Eingriff unterziehen, wenn der Arteriendurchmesser eine bestimmte Größe erreicht", erläutert Gerhard Holzapfel. Eine medizinische Entscheidung, die allerdings nicht auf eindeutigen wissenschaftlichen Kriterien beruhe. "Verstünde man die mechanobiologischen Vorgänge besser, die zur Entstehung eines Aneurysmas führen, könnte man präventiv in das Krankheitsgeschehen eingreifen", ist der Wissenschafter überzeugt. "Es könnten frühzeitig Medikamente eingesetzt werden, die das Wachstum stoppen oder sogar rückgängig machen."
Wie gefragt das Grazer Know-how auch auf internationaler Ebene ist, belegt ein von den amerikanischen National Institutes of Health (NIH) finanziertes Grundlagenprojekt zur Modellierung und Simulation des Bauchaorten-Aneurysmas. "Wir arbeiten hier mit den Universitäten Yale, Stanford und Pittsburgh zusammen", sagt Holzapfel nicht ohne Stolz. Die dreidimensionale Modellierung und Computersimulation der krankhaften Umbildung der Aortenwand und des begleitenden Wachstums des Aneurysmas, gestützt durch experimentelle Erkenntnisse, bilden einen Schwerpunkt des NIH-Projekts. Ziel ist die Entwicklung eines öffentlich zugänglichen Computercodes, an dem internationale Forschergruppen weiterarbeiten können.
In einem vom Wissenschaftsfonds geförderten Projekt ergründen die Grazer Forscher auch die Mechanik der Herzwand. "Zu diesem Zweck erforschen wir das Gewebe zunächst experimentell im Labor", erläutert Holzapfel. "Anschließend versuchen wir, mit diesen Daten das Gewebe im Modell abzubilden und schließlich in ein Computermodell zu übertragen."
Herzwand im Fokus
Um die tatsächliche Lastverteilung in der Herzwand in ihren Modellen berücksichtigen zu können, müssen die Wissenschafter auch die erst unzureichend verstandene Struktur der Herzwand erforschen. Gelingt es, die Herzwand in Computermodellen realitätsnah zu rekonstruieren, wird auch ihr (krankhaftes) Verhalten unter bestimmten Bedingungen besser vorhersagbar sein.
Eine der großen Herausforderungen für die Forscher ist die zurzeit noch unbefriedigende Datenlage. Denn die Zuverlässigkeit von Simulationen hängt maßgeblich von der Qualität der verfügbaren Materialdaten ab. Ein wesentlicher Bestandteil der Grazer Forschungsarbeit sind deshalb biomechanische Labortests. Hier werden verschiedene Gewebe teils an selbst konstruierten Testmaschinen auf ihre mechanischen Eigenschaften untersucht. So versuchen die Forscher etwa zu klären, wie sich das Arteriengewebe verändert, wenn sich ein Thrombus, also ein Blutgerinnsel, gebildet hat.
Verformung berechnen
"Heute verstehen wir bereits, wie sich ein Thrombus im Lauf der Zeit verändert", berichtet Holz-apfel. Das sind wichtige Informationen für die Modellierung, da ein junger Thrombus andere mechanische Eigenschaften und eine andere Zusammensetzung aufweist als ein älterer. All diese Erkenntnisse in Modelle und Simulationen umzusetzen, ist eine mathematische Herausforderung, bei der die Kontinuumsmechanik zur Berechnung der Verformung ebenso zum Einsatz kommt wie die Methode der finiten Elemente. (DER STANDARD, Printausgabe, 08.02.2012)