Erst am Montag wurden Vorwürfe bekannt, dass in den 1960er Jahren an Wiener Heimkindern Versuche mit absichtlichen Malaria-Infektionen durchgeführt wurden. Wie das Ö1-Morgenjournal berichtet, hat nun ein Historiker aufgedeckt, dass in Tirol bis Ende der 1970er Jahre Heimkinder mit Röntgenstrahlen und einem Mittel aus der Tiermedizin behandelt worden waren.

Es seien sogar unter zehnjährige Mädchen niedergespritzt worden, sagt der Historiker Horst Schreiber, Initiator und Mitglied der Heim-Untersuchungskommission in Tirol. Zur Anwendung sei Epiphysan gekommen, ein Mittel aus der Tiermedizin, das ursprünglich zur Vermeidung von Brunftverhalten bei Kühen getestet wurde und das als gesundheitsschädlich bekannt ist. "Hier wurden Mädchen, einfach weil behauptet wurde, sie onanieren oder sie sind sexuell übererregt, niedergespritzt", so Schreiber.

"Kreuzzug gegen Onanie"

Die Verantwortung sei in erster Linie bei der bereits verstorbenen Psychiaterin Maria Nowak-Vogel, der langjährigen Leiterin der Innsbrucker Kinderpsychiatrie, gelegen. Sie sei geprägt gewesen durch strengen Katholizismus und Nationalsozialismus und habe in dieser Tradition auch behandelt. So habe sie einen "Kreuzzug gegen Onanie" geführt und Heimkinder auch mit Röntgenstrahlen behandelt, berichtet Schreiber: "Nowak-Vogl beschreibt selbst den Fall eines Fünfjährigen, den sie mit einer Serie von Röntgenstrahlen behandelt hat wegen des Jähzorns, den er an den Tag legte."

Die Psychiaterin und Pädagogin, die bis 1987 Leiterin der Kinderpsychiatrie Innsbruck war, sei "eine der Schlüsselfiguren mit ihren Gutachten und Diagnosen" gewesen, um Kinder in Heimen unterzubringen. "Sie äußert auch sehr oft die Frage, ob diese Kinder jemals vollwertige Menschen werden können", erklärt Schreiber. Erniedrigende Bestrafungen, etwa von Bettnässern, seien in der Kinderpsychiatrie an der Tagesordnung gewesen.

"Ansichten waren Mainstream"

Für Hartmann Hinterhuber, bis vor kurzem Chef der Psychiatrie in Tirol, sei die angebliche Anwendung von Röntgenstrahlen völlig unverständlich, berichtet Ö1. Er bedaure die aus heutiger Sicht indiskutablen Ansichten Nowak-Vogels, aber sie seien zur damaligen Zeit "Mainstream" gewesen. Schließlich sei Nowak-Vogl 1972 von der geisteswissenschaftlichen Fakultät zur außerordentlichen Professorin ernannt worden.

"Die 'Aus den Augen - aus dem Sinn'-Praxis der scheinheiligen Tiroler Politik bis in die 1970er Jahre im Umgang mit Heimkindern bekommt eine weitere traurige Dimension", sagte SP-Sozialsprecherin Gabi Schiessling gegenüber der APA. Das Land Tirol habe durch die begonnene Aufarbeitung seine Verantwortung wahr genommen, so die Landtagsabgeordnete. (red, derStandard.at, 8.2.2012)