Wien/Lancaster - Ungenügende oder nicht eindeutige Abgrenzung zum Nationalsozialismus, wie sie in der heimischen Politik immer wieder für Skandale sorgt, beschäftigt auch die Sprachwissenschaft: Unter dem Titel "Kalkulierte Ambivalenz" untersucht die österreichische Linguistin Ruth Wodak rhetorische Strategien rund um die NS-Zeit. Am Freitag stellt sie ihre Thesen bei einer Tagung zur Erinnerungspolitik in Bezug auf den Holocaust im 21. Jahrhundert im britischen Lancester vor.

Seit den 1980er Jahren habe sich das österreichische Geschichtsbild gewandelt - manchmal aber, so Wodak im Gespräch, gingen bei der "Vergangenheitsbewältigung" schlechtes Gewissen und Rechtfertigungsbedürfnisse mit einer Rhetorik einher, die sich nicht klar zum Nationalsozialismus abgrenzt. "Strategie der kalkulierten Ambivalenz" meint dabei, dass "gleichzeitig verschiedene und oft unterschiedlich eingestellte Adressaten angesprochen werden, und zwar mit gegensätzlichen Bedeutungen".

Beispiel Gudenus

In einem gemeinsam mit Jakob Engel verfassten Artikel für einen 2012 erscheinenden Sammelband beschreibt sie etwa die Aussagen des damaligen FPÖ-Politikers John Gudenus als eine solche Strategie. Gudenus hatte 1995 in Bezug auf die Existenz von Gaskammern gemeint, alles zu glauben, was "dogmatisch festgeschrieben" sei. Er bestätigte so formal ihre Existenz, hätte diese aber gleichzeitig durch den Vergleich mit einem nicht hinterfragbaren Dogma in Zweifel gezogen, unterstreicht Wodak. 2005 nochmals auf diese Aussage angesprochen, forderte Gudenus rund um die Frage, ob es Gaskammern gegeben hätte, keine "Tabus aufzustellen". 2006 wurde er wegen Wiederbetätigung nach dem "Verbotsgesetz" rechtskräftig verurteilt.

Heinz-Christian Straches kolportierte Aussagen am Ball des Wiener Korporationsrings (WKR) am 27. Jänner sieht Wodak hingegen als "spontan und nicht für die Öffentlichkeit gedacht". Sie signalisierten daher weniger eine intendierte Provokation oder eine strategische Ambivalenz, als "möglicherweise eine Überzeugung und eine gewohnte Redeweise".

Im Vordergrund stehe der Versuch der Opfer-Täter-Umkehr: "Die FPÖ und Ballbesucher als 'neue Juden' zu bezeichnen, die jetzt wissen, wie es in der 'Reichskristallnacht' war, verharmlost die Situation des Novemberpogroms", führt die Sprachwissenschafterin aus. Nicht zulässig sei auch die Verwendung von NS-Terminologie ("Reichskristallnacht") in diesem Zusammenhang.

Öffentliche Provokation

Generell seien ambivalente Einstellungen zur Vergangenheit kein österreichisches Phänomen, so Wodak. Verwunderlich sei aber, dass es in Österreich prominente Politiker einer großen Partei sind, die solche Strategien als öffentliche Provokation nutzen "und damit auch Themenführung erlangen". Provokationen seien auch als solche zu bezeichnen, um diesen so "den Wind aus den Segeln zu nehmen".

Unterschiede sieht Wodak in den rhetorischen Strategien hinsichtlich antimuslimischer und antisemitischer Aussagen. Letztere seien in der österreichischen Öffentlichkeit meist wesentlich indirekter formuliert. "In Österreich kommen jedenfalls immer wieder antisemitische Äußerungen zum Tragen, wenn es um Vergangenheitsaufarbeitungen der NS-Zeit geht", so Wodak. In Österreich - aber auch in Ungarn oder Polen, ebenfalls Länder mit einem "traditionellen" Antisemitismus - könne man eine Strategie des "Judeus ex machina" beobachten: "Wenn man ein Feindbild braucht, dann werden noch immer Juden dazu gemacht. Die antisemitischen Stereotype sind quasi als Archetypus für Vorurteile zu sehen." (APA)