Edith Meyer wurde im Jahr 1942 nach Auschwitz deportiert. Von ihrem Freund Heinrich Heinen, ebenfalls 1942 in Hohenems von Gendarmen erschossen, ist kein Foto erhalten.

Cover: Haymon Verlag

1997 stieß Alfons Dür, der damalige Vizepräsident des Landesgerichts Feldkirch auf ein Konvolut an Sammelakten aus der NS-Zeit, das den Ausbruchsversuch von fünf jugendlichen Häftlingen behandelte. Der Grund dafür war Liebe. Sie kostete Heinrich Heinen ebenso wie seine Braut Edith Meyer und zwei weitere Jugendliche das Leben. In jahrzehntelanger Archivarbeit gelang es Alfons Dür, die Spuren der Kids zu finden, die waghalsige Flucht des Liebespaars quer durch Europa und sein tragisches Ende nachzuzeichnen.

Eine blaues Kanapee, eine Grünpflanze auf dem Lacktischchen zwischen dem Klavier und dem Kanarienvogelkäfig. Haben Meyers so "deutsch möbliert" gewohnt? Seit über dreihundert Jahren gibt es die kleine jüdische Gemeinde in Langenfeld bei Köln. Ihre Lebensweise unterscheidet sich kaum von der der katholischen oder evangelischen Bevölkerung. Abends, wenn die Eltern aus dem Geschäft kommen - "Maßanzüge von 25 Mk an. Stoffmuster franko zu Diensten" - da setzt sich ihre Jüngste vielleicht an den Flügel und singt eines der so beliebten Volkslieder von Johannes Brahms.

"Es ging ein Maidlein zarte, früh in der Morgenstund,

in einen Blumengarten, frisch, fröhlich und gesund."

Den Kanarienvogel dürfte es eigentlich nicht geben - das ist Juden 1938 verboten. Auch studieren dürfen sie nicht. Deshalb sind Ediths ältere Geschwister Alice und Ernst Siegfried in den USA. Edith aber ist 18 und total verliebt. Nur gibt es keinen Ort für diese Liebe. Auf Parkbänken sitzen, ins Kino gehen, den Bus benützen - alles verboten.

"Rassenschande" heißt es, wenn Heinrich, der katholische Arbeiter, mit Edith spazieren geht, sie umarmt und küsst. Heinrich pfeift auf das Verbot. Außerdem will er sein Mädchen bald heiraten. Edith bringt ihre Habe - ein chinesisches Kaffeeservice, Damastdecken, einen gemalten Obstteller - zu einer Bekannten, zu Paula Berntgen.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 dringen SA-Leute in die Wohnungen ein. Sie reißen eine Treppenlatte ab und misshandeln damit Albert Salomon, einen Onkel von Edith Meyer. Als einer seinen Dolch zieht, stürzt sich die Haushälterin in ihrer Angst aus dem Fenster und bleibt schwer verletzt liegen. Nach 1945 wird ihre Aussage ein detailliertes Bild des Pogroms in Langenfeld zeichnen.

Familie Meyer muss in ein sogenanntes "Judenhaus" einziehen. Indessen ist es Alice gelungen, in den USA genügend Geld aufzutreiben, um ihren Eltern und der kleinen Schwester Edith die Schiffspassage zu bezahlen. Zu spät. Das nationalsozialistische Regime will seine jüdischen Bürger nicht mehr vertreiben, sondern ermorden.

"Da unten im Tale läuft's Wasser so trüb

und i kann dir's nit sagen, i hab di so lieb."

Johannes Brahms. Deutsche Volkslieder. Edith Meyer hört nächtelang das Weinen der Kinder. Sie ist nach Düsseldorf verschleppt worden. Stehend, in eisiger Kälte, wartet sie - zusammen mit 1006 anderen - in einer feuchten, dreckigen Halle, einem aufgelassenen Schlachthof, auf die Deportation. "Die Frostbeulen an meinen Füßen begannen zu schmerzen, aber ich wagte nicht, meine Stiefel auszuziehen, denn immer wieder mussten wir antreten und wurden nach dem Alphabet aufgerufen", erinnert sich Hilde Sherman, eine Überlebende des Transports. "In den Steintrögen des Schlachthofs lagen Babys und Kleinkinder und weinten die ganze Nacht, wahrscheinlich vor Kälte."

Der letzte Appell kommt um vier Uhr früh. Die Menschen schleppen sich zum Bahnhof. Auch hier heißt es warten, frieren, stundenlang. Sechs Stunden lang. Dann kommt der Zug. Die Heizung ist defekt.

Amtliche Berichte über die Deportationen gibt es äußerst selten. In diesem Fall hat sich Paul Salitters Schreiben an das "Reichssicherheitshauptamt" erhalten. Salitter beklagt sich über den Ausfall der Heizung, einen Achsenbrand, das permanente Umrangieren und Warten auf Nebengeleisen. Zweimal ließ er in der 48-stündigen Fahrt "einem Teil der Juden etwas Wasser verabfolgen".

Als sie in Skirotawa, acht Kilometer vor Riga ankommen, ist in der Stadt alles ruhig. Zwölf Grad unter null lassen die Bewohner erstarren. Die Wachmannschaften treten erleichtert die Heimreise an. Der Zug bleibt eine weitere Nacht stehen. Edith friert wie alle anderen. Viele der Deportierten erfrieren.

Wer im Ghetto von Riga ankommt, dem kriecht die Kälte bis ins innerste Herz. In den niederen Holzhäusern sind die Tische noch gedeckt. "Teller, Bestecke, Tassen", erinnert sich Hilde Sherman, "und - was uns am meisten erstaunte - Schüsseln mit angerichteten Speisen, die allerdings steinhart gefroren waren." Seit drei Tagen haben die Neuankömmlinge nichts gegessen, doch angesichts dieser grotesken Schneewittchen-Szene können sie es nicht mehr. Wochen hat das Morden in Riga gedauert. Himmler persönlich hat es inspiziert. Das Töten mit Gewehrsalven hielt er für ineffizient. Neue Mordmethoden mussten her. Kohlenmonoxyd, lautloser Tod in den "Gasautos". "Ich sehe noch heute die Leute. Leute, die in Autos steigen", berichtet ein Überlebender. "Die Leute waren dermaßen zermürbt vom Hunger, von der Erniedrigung, von allem, es hat sie gar nicht mehr interessiert, was sie machen."

"Ich will mein schönes Lieb anschauen

um das ich muss so ferne gehen"

Sind es die Volkslieder, die in Heinrich Heinen die Liebe wachhalten? Findet er mit dem Blut eines empörten Herzens die Kraft, nach Edith zu suchen? 41 Mal wendet er sich in diesen zwei Wochen an Willi Berntgen, den Mann ihrer Freundin Paula. An wen sonst? Wir wissen es nicht. Seine verzweifelte Suche können wir erahnen durch Willi Berntgens Aussage vor der Stapo-N-Solingen. Heinrich habe "geäußert, wenn er wüsste, wo die Edith wäre, würde er sie aus dem Lager holen, was wir aber nie geglaubt haben. Ich habe ihm darauf gesagt, dass es Wahnsinn sei, was er vorhabe. "

Heinrich gelingt es, sich unbemerkt von seinem Arbeitsplatz bei einem Berliner Rüstungskonzern, den Henschel-Werken, zu entfernen, ohne Reisedokumente nach Riga zu gelangen, sich ins stacheldrahtumzäunte Ghetto zu schmuggeln und dort unter 25.000 Menschen die Geliebte zu finden. "Angeblich ist er des Abends mit Meyer unter den Stacheldraht her gekrochen u. so ins Freie gelangt", sagt Willi Berntgen aus.

Das Liebespaar findet Unterkunft bei einer lettischen Bäuerin, klaut ein Wehrmachtsauto und flieht nach Solingen zu Berntgens. Aber die wollen sie nicht beherbergen. Paula begleitet ihre Freundin zu Helene Krebs. Das ist eine Verwandte Ediths, verheiratet mit einem "Arier" und dadurch irgendwie geschützt. Dann bekommen Berntgens es doch mit der Angst zu tun. Sie denunzieren die Freundin - und sprechen damit das Todesurteil über die hochschwangere Helene Krebs. Sie wird nach Auschwitz deportiert.

"Mein Herz ist nicht mehr mein,

o könnt ich bei dir sein"

Edith und Heinrich haben davon nichts mehr erfahren. Sie flüchten nach Vorarlberg. Dort gibt es vielleicht eine Möglichkeit, in die Schweiz zu gelangen. Über die Grenze bei Hohenems? Dessen jüdische Gemeinde aber ist nach über 300 Jahren ausgelöscht worden. Über die alten Schmugglerwege im Rätikon- oder Silvretta-Gebirge? In Bludenz geht den beiden das Geld aus. Irgendwie gelangen sie nach Feldkirch. Es ist ein Montag. Im Kino wird "die tolle Geschichte eines Mannes, dem alles danebengeht" gespielt, die Komödie "Sieben Jahre Pech" mit Hans Moser. Der ist auch mit einer Jüdin verheiratet, "von der er nicht lassen wollte". An diesem 22. Juni 1942 werden Heinrich und Edith festgenommen.

Heinrich kommt in eine Zelle, in der Jugendliche sitzen, die - wie er selber - illegal die Grenze in die Schweiz passieren wollten. Friedrich Frolik zum Beispiel. Der hatte, als er festgenommen wurde, einen Fotoapparat bei sich. Die Bilder zeigen den Buben auf Wegen an der Grenze. In der Zelle sitzt auch der 19jährige Josef Höfel aus dem nahen Hohenems. Er wurde festgenommen als Mitglied einer "aktivistischen Kampforganisation", deren Ziel der "rücksichtsloseste Kampf gegen den Nationalsozialismus" war.

"Nimm die Schuh nur in die Hand

und schleich dich leis entlang der Wand,

komm du, mein Liebchen komm!

Komm du, mein Liebchen komm!"

Heinrich Heinen stand den "furchtbaren Juristen" furchtlos gegenüber. Er wollte seine Edith ein weiteres Mal befreien, zog die andern ins Vertrauen. Sie würgen einen Mithäftling mit einen Handtuch bewusstlos, entwaffnen die eintreffenden Wachbeamten, einer hält sie mit der Pistole in Schach. Die andern durchsuchen das Gefängnis. Stundenlang. Welche Angst tobt in ihren jungen Herzen? Sie finden Edith nicht. Das Mädchen ist wenige Stunden vor dem Ausbruch nach Auschwitz deportiert worden.

Heinrich Heinen und Josef Höfel flüchten schließlich nach Hohenems. Da läuft bereits eine Großfahndung. Man findet die Burschen, auf einer Hausbank sitzend. Die Gendarmen zielen auf den Kopf von Josef Höfel und das Herz von Heinrich Heinen. Beide sind sofort tot.

"Von herbem Leid und Traurigkeit ist mir das Herz zerflossen,

die Blümelein, mit Tränen rein hab ich sie all begossen."

Ist Edith Meyer lebend in der Todesfabrik Auschwitz angekommen? Wir wissen es nicht. Sie wurde in Auschwitz nicht registriert und scheint auch in den Sterbebüchern nicht auf. Dort wurden mit Nummern registriert nur jene "Häftlinge", die nicht sofort nach der Ankunft ermordet wurden. (Ingrid Bertel, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 11./12. Februar 2012)