Chefsein: Aller Anfang ist schwer.

Foto: http://www.istockphoto.com/selimaksan

 

STANDARD: In Anlehnung an Wilhelm Busch: "Chef zu werden ist nicht schwer, Chef zu sein dagegen sehr." Wovor sollten sich junge Vorgesetzte am Start hüten?

Müller: Junge Führungskräfte haben den Vorteil, dass sie noch ohne festgefahrene Muster auf Dinge schauen, Probleme ansprechen und schnörkellos agieren können. Sie treffen aber auf Kollegen, die keine Freude daran haben, von einem Newcomer erklärt zu bekommen, dass alles bisher Gemachte falsch war. Wenn jemand kommt und sagt oder spüren lässt: "Jetzt machen wir mal alles ganz anders und endlich richtig!", wird er Widerstände auslösen.

Sieht er dann in diesen Widerständen nur ein Zeichen der Ewiggestrigen, hat er übersehen, dass der Respekt vor dem, was war und ist, und die Wertschätzung der bisher erbrachten Leistung elementare Voraussetzung für eine gute Fortsetzung der Arbeit in und nach eigener Sicht- und Handlungsweise ist. Das gilt auch für den Umgang mit dem Vorgänger in Wort und Tat.

STANDARD:  Warum?

Müller: Die jungen Vorgesetzten dürfen in ihrer Position nie übersehen, dass ein Teil der Mitarbeiter sich sogar dann mit dem Vorgänger solidarisiert, wenn dieser einen schlechten Ruf hatte. Der alte Vorgesetzte war das Gewohnte. Jeder neue Vorgesetzte muss sich bewusst sein, dass der Wechsel des Chefs Angst und Unsicherheit hervorruft. Wird das nicht bedacht oder diese Angst gar mit unbedachten Bemerkungen noch geschürt, wird das Opportunismus und Ja-Sagerei auslösen. Die Mitarbeiter werden einem unbedacht agierenden jungen Vorgesetzten anhand ihres Vorsprungs beim Prozess- und Fachwissen beweisen wollen, auf ihn verzichten zu können. Und erfahrene Mitarbeiter verstehen sich meist gut darauf, unerfahrene Vorgesetzte ins Leere laufen zu lassen.

Neben dem bereits Erwähnten kommt es vor allem darauf an, viele Fragen zu stellen und ernsthaft verstehen zu wollen, was die Mitarbeiter tun und warum. Des Weiteren kümmern sich Vorgesetzte viel zu wenig um "den ganzen Menschen". Je mehr sie etwas über die privaten Umstände, Anforderungen und Begrenzungen wissen, desto eher können sie die passenden Aufgaben zuteilen und Erwartungen formulieren. Dass junge Führungskräfte dabei in einer schwierigen Situation sind, ist mir bewusst. Gerade ihnen fällt der persönliche Zugang am Anfang besonders schwer.

STANDARD: Wie gelingt es dann, zu einer effizienten Leistungsgemeinschaft zusammenzuwachsen?

Müller: Hier ist nun ein spannender Spagat gefragt, der ganz generell den Reiz und die Schwierigkeit der Führung ausmacht. Die neue Rolle muss angenommen werden, es bringt nichts, den Mitarbeitern zu signalisieren: "Ich bin einer von euch!", oder sich gar mit den Mitarbeitern gegen "die da oben" zu solidarisieren.

Es braucht das Bewusstsein, die Führungskraft zu sein. Aber: Gleichzeitig muss sich der junge Vorgesetzte davor hüten, zum "Amtshierarchen" zu werden, der selbstherrlicher wird und immer mehr qua Position bestimmt. Es kommt also darauf an, alle einzubinden, aber auch den Mut zum letzten Wort zu haben. Mitarbeiter wollen sehr wohl einen starken Chef, der klare Vorgaben macht, die Spur hält und nach innen und oben verteidigt. Das bedeutet Berechenbarkeit und die Chance, sich zu engagieren. Und damit verbunden ist ein zentraler Aspekt guter Führung: eine Delegation, die den Dreiklang Aufgabe, Kompetenz und Verantwortung einschließt. Viele Chefs delegieren fühlbar nur das, was sie selbst nicht gerne machen. Und sie nehmen die Erfolge der Mannschaft für sich und lassen die Misserfolge beim Mitarbeiter. Solche Chefs vertreiben gute Leute!

STANDARD: Es gilt also, nicht nur das Verhalten "nach unten" und "nach oben" zu bedenken. Der junge Vorgesetzte in seiner Rolle als Mitarbeiter - was tun, was lassen? Fortsetzung auf Seite K 2

Müller: Die Schwierigkeit der Positionierung "nach oben" beginnt mit der Frage, wie viel Zeit man der jungen Führungskraft lässt. Ich erlebe, dass man von einem Jahr Entwicklungszeit spricht und dann nach einem Monat in der neuen Aufgabe schon die Frage nach den sichtbaren Erfolge stellt.

Für die junge Führungskraft stellt sich die Aufgabe: "Wie führe ich meinen Chef?" Vorgesetzte leiden immer darunter, von ihren Mitarbeitern nur Ausschnitte zu sehen. Je kleiner und zufälliger diese "Blitzlichter" ausfallen, desto schräger wird das Mosaik. Junge Vorgesetzte können aber sehr wohl etwas dafür tun, wie sie gesehen werden. Wenn ich aktiv berichte, woran ich arbeite und was ich vorhabe, ist das die eine Seite. Wenn ich aber auch rechtzeitig über Schwierigkeiten informiere, bevor sie beim Vorgesetzten ankommen, ist das souverän. Der Vorgesetzte wird es in aller Regel danken, nicht überrascht worden zu sein oder von seinem eigenen Chef auf dem falschen Fuß erwischt zu werden. Und es ist ein Zeichen "junger Weisheit", den Chef einzubinden, um von seiner Erfahrung und seinem Wissen - sachlich und taktisch - zu lernen.

STANDARD: Wie gelingt es jungen Vorgesetzten, sich selbst ein unverwechselbares "Gesicht" zu geben?

Müller: Hier beobachte ich eine erfreuliche Veränderung bei der jüngeren Generation. Ich erlebe dort eine Tendenz zur Authentizität. Statt Fassadenschieben um jeden Preis versuchen viele jüngere Führungskräfte durch Engagement und Kompetenz zu glänzen. Das muss aber auch an passender Stelle gezeigt werden. Deshalb sollte gerade die junge Führungskraft alle Möglichkeiten nützen, die "Bühne" zu betreten: vor dem Vorstand einen Auftritt wahrzunehmen, im Meeting zu präsentieren, auch extern mal einen Vortrag zu halten. Je mehr positive Bilder, desto eher bleiben Gesicht und Name haften.

STANDARD: Spielt das Verhalten sich selbst gegenüber eine Rolle?

Müller: Diesen Punkt halte ich für extrem wichtig. Eine gute Führungskraft ist auch gut zu sich selbst. Ein junger Chef sollte beweisen, dass er in zehn Stunden sein Pensum bewältigt. Und er sollte am nächsten Morgen nicht mit Hundemiene erklären, wie schwer er es hat. Dazu gehört auch eine große Disziplin, nicht Tag und Nacht "on hold" zu sein, sondern auch den Respekt der Umgebung zu fordern. Dass bestimmte Unternehmenskulturen davon mehr oder weniger erlauben, weiß ich. Aber am Ende muss sich auch die junge Führungskraft fragen, ob sie in diesem Unternehmen noch bei sich selbst sein darf.

STANDARD: Wovor warnen Sie hier besonders?

Müller: Wir haben in unserer multimedialen und globalisierten Gesellschaft einen schleichenden Prozess der permanenten mentalen Verfügbarkeit erlebt. Wer hier keine Grenzen setzt, ist auf dem Weg der Selbstaufgabe. Der Mensch ist nicht für den Dauerbetrieb angelegt. Nach meinem Eindruck werden viele Entscheidungen nicht nur deshalb immer kurzfristiger und laufend korrigiert, weil sich die Umwelt so schnell verändert, sondern auch, weil keiner mehr Zeit zum Überlegen hat.

Was kann der Einzelne selbst dazu beitragen? Meine Mitarbeiter nicht mit Nachrichten bombardieren und keine Flut an Meetings mit unklarer Agenda zulassen. Ich wache also auch so über mich selbst, indem ich auf die anderen aufpasse, sie pfleglich behandele.

STANDARD: Wann wird Ehrgeiz zur Gefahr ?

Müller: Wenn ich in Gedanken schon beim nächsten Karriereschritt bin, während ich meine neue Position gerade antrete. Es gibt auch eine Tendenz in manchen Unternehmen, Nachwuchskräfte nach dem ersten größeren Erfolg gleich wieder weiterzuschicken. Manchmal sind damit sogar persönliche Ziele der Führungskräfte verbunden. Bevor jemand Fuß gefasst hat in seiner Verantwortung, kann er noch nicht einmal beurteilen, wie lange er dort reifen sollte bis zum nächsten Schritt. Und er sieht die Folgen seines Handelns nicht, weder fachlich noch personell. Er huscht über die Tiefe hinweg, zimmert sich ein Weltbild aus der Vogelperspektive und lernt kaum die Menschen in ihren Handlungsmustern und Motivatoren kennen. Letztlich wird er nicht zur Persönlichkeit, sondern bleibt Funktionsträger und scheitert spätestens dann, wenn er statt Mitarbeitern Führungskräfte führen soll. Es braucht also genügend lange Etappen, um verantwortlich zu werden für sein Handeln und souverän als Vorgesetzter.

STANDARD: Was ist Ihr Rat an junge Talenten auf dem Weg bergauf?

Müller: Authentisch bleiben, sich selbst führen, die eigenen Grenzen respektieren und einen ganz wichtigen Gedanken beherzigen: "Alles hat seine Zeit!" Ich muss in meinem Leben nicht alles auf einmal und nicht alles in zehn Jahren erledigen. Ich muss es nicht jedem recht machen und mich dabei selbst verlieren. Und wenn ich an einem Platz (scheinbar) scheitere, gibt es viele andere Plätze, die mich so haben wollen, wie ich bin.

Und im Blick auf die anderen gilt es, ein positives Menschenbild zu entwickeln und zu behalten. Die vielleicht wichtigste Führungsaufgabe ist zu erkennen, wo ein Mitarbeiter "die richtige Person zur richtigen Zeit am richtigen Platz ist". Wer die Würde des anderen bewahrt, wird seine Würde behalten. Und: Wenn mir das eben Gesagte in der jetzigen Umgebung nicht selbst widerfährt, sollte ich als Nachwuchskraft nicht lange versuchen, meine Umgebung zu verändern, sondern möglichst bald einen besseren Platz suchen. (Hartmut Volk, DER STANDARD, Printausgabe, 18./19.2.2012)