
Ein Plakat in Sidi Bouzid erinnert an die Revolution.
Sidi Bouzid - Staubige Schotterpisten, gesäumt von unverputzten Bauruinen: Sidi Bouzid war bis vor kurzem noch eine austauschbare Stadt von 40.000 Einwohnern, wie es sie im Landesinneren Tunesiens zuhauf gibt. Kein Wunder, dass ausgerechnet in der tristen Stadt - und nicht in der europäisch geprägten Metropole Tunis, die zwar nur 200 Kilometer, aber dennoch Welten entfernt liegt - die tunesische Revolution ihren Lauf nahm.
Seit sich am 17. Dezember 2010 der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi vor dem Amtsgebäude der Stadt aus Protest vor den Drangsalierungen der Behörden mit Benzin übergoss und anzündete, steht der Ort für die Wiege des Arabischen Frühlings. Der Märtyrertod löste eine Protestwelle aus, die sich via Facebook und Twitter durchs ganze Land und später gar darüber hinaus ausbreitete. Nur einen Monat später floh Präsident Ben Ali mit seiner Familie nach Dubai, womit der Weg Tunesiens in die Demokratie geebnet war.
Nur einen Steinwurf vom Schauplatz entfernt gründeten Stadtbewohner nun das erste Radio der Region. "Al Kamara" heißt es, zu Deutsch "Würde" - und genau dieser neugewonnenen tunesischen Würde versucht die zwölfköpfige Redaktion eine Stimme zu verleihen.
Das einstöckige Radiogebäude besteht lediglich aus ein paar spartanisch ausgestatteten Räumen, einem kleinen Studio und wenigen Computern. Draußen wurden provisorisch Zeltplanen aufgebaut, unter denen größere Redaktionskonferenzen abgehalten werden. Die materielle Kargheit steht in drastischem Widerspruch zum lebhaften Engagement der Stadtbewohner für ihr Radio, welches nach den Prinzipien des Bürgerjournalismus aufgebaut ist: "Vor einem Jahr war es noch undenkbar, dass es in unserem Ort ein eigenes Radio gibt", meint Redakteur Rida Hamdi.
Täglich kommen Bewohner mit Informationen in der Redaktion vorbei. "Die Leute sehen uns als Sprachrohr und wollen aktiv teilnehmen", so der 25-Jährige. Mussten die Anrainer früher noch zur Moschee gehen, um die neuesten Meldungen des Orts aufzuschnappen, hocken sie nun vorm Radio. Die Begeisterung erinnert an Berichte darüber, wie früher in Österreich Leute im Wirtshaus zusammenkamen, um den ersten Fernseher zu bestaunten.
Hohe Arbeitslosigkeit
Das alles dominierende Programmthema ist die hohe Arbeitslosigkeit in der Region, die noch immer 40 Prozent beträgt. "Wir beschäftigen uns mit vielen negativen Dingen, die Stimmung in der Bevölkerung ist nicht die Beste", weiß Hamdi. Das bekundet auch eine Menschentraube von rund 100 Leuten, die sich nur ein paar Straßen weiter vorm Gemeindeamt versammelt hat. Wo sich vor etwas mehr als einem Jahr Bouazizi verbrannt hat, wird nun lautstark mehr Arbeit gefordert.
Viele haben sich eine sofortige Besserung ihrer Lebensumstände erhofft - vergeblich. An die anfängliche Euphorie der Revolution erinnern hier nur mehr die verblassten Graffitiparolen an den Hauswänden. "Auch wenn sich daran nichts geändert hat", meint ein Mann in der Menge, "so haben wir doch immerhin eines gewonnen: unsere Meinungsfreiheit!" (Fabian Kretschmer aus Sidi Bouzid, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20.2.2012)