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"Nein zur ethnischen Diskriminierung": Bei drei Vierteln der lettischen Stimmbürger stieß dieser Appell auf taube Ohren.

Foto: REUTERS/Ints Kalnins

Riga/Wien - Mit 24,88 Prozent stimmten im Referendum am Samstag sogar noch weniger für Russisch als zweite Amtssprache neben Lettisch, als der Anteil der ethnischen Russen an der Gesamtbevölkerung Lettlands ausmacht (2011 26,9 Prozent von rund 2,2 Millionen Einwohnern). 74,8 Prozent der teilnehmenden Stimmbürger lehnten eine entsprechende Verfassungsänderung ab.

Die außergewöhnlich hohe Wahlbeteiligung von 70,7 Prozent macht klar, wie brisant das Thema für einen Großteil der Bevölkerung ist. Zahlreiche Politiker von Staatspräsident Andris Berzins abwärts hatten an die Bürger appelliert, mit Nein zu stimmen. Berzins' Aussage (unter anderem in einem Interview mit dem Standard), mit Russisch als zweiter Amtssprache "würde man das Land liquidieren und die Letten ohne Land zurücklassen", ist die polemisch zugespitzte Überzeugung der meisten seiner Landsleute, dass die 1991 mit der Unabhängigkeit eingeführte Staatssprache Lettisch Ausdruck und Garant der Souveränität ist.

Gemäß dem geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 fiel Lettland der Sowjetunion zu und wurde von dieser 1940 besetzt. Nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion musste sich die Rote Armee vorübergehend zurückziehen, rückte aber gegen Kriegsende wieder ein. Lettland wurde der UdSSR einverleibt. Vor allem ab 1949 setzte eine massive Russifizierungspolitik ein, zugleich wurden Letten massenweise nach Zentralasien deportiert. 1989 erreichte der Anteil ethnischer Russen an Lettlands Bevölkerung mit 34 Prozent seinen Höchststand (1935, im damals unabhängigen Lettland, waren es knapp neun Prozent).

Dieser historische Hintergrund erklärt die vertrackten ethnischen Verhältnisse im heutigen Lettland. Er kann aber wohl nicht als Entschuldigung dafür dienen, dass rund 300.000 Einwohner (15 Prozent der Bevölkerung) als sogenannte Nichtbürger zwar Aufenthaltsrecht, aber keine Staatsbürgerrechte genießen. Es sind großteils in der Sowjetzeit zugezogene Russischsprachige, die bisher nicht die gesetzlich geforderte Staatsbürgerschafts- und Sprachprüfung abgelegt haben.

Die "Nichtbürger" sind nicht wahlberechtigt, durften also auch nicht am Sprachreferendum teilnehmen. Viele von ihnen weigern sich bewusst, Lettisch zu lernen, weil sie das Gesetz für menschenrechtswidrig halten. Auf Druck des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hat Lettland zuletzt die Zahl der Einbürgerungen erhöht. Im Grunde ist der Status "Nichtbürger" mit EU-Normen unvereinbar.

Einsicht spricht auch aus den Worten von Regierungschef Valdis Dombrovskis. Bei der Stimmabgabe am Samstag meinte er, es müsse über Veränderungen in der Integrations- und Einbürgerungspolitik nachgedacht werden. Die Last der Geschichte und die Rücksichtnahme der lettischen Politiker auf die Mehrheitsmeinung lassen rasche Verbesserungen für die russischen Bürger zweiter Klasse freilich kaum erwarten. (DER STANDARD-Printausgabe, 20.02.2012)