Es ist eine Plenarsitzung im Europäischen Parlament wie jede andere, könnte man meinen. Menschen versammeln sich auf ihren Plätzen, das blaue, besternte Banner wacht beim Podium, die Dolmetscher hinter den Scheiben sind startbereit. Doch werden diese heute nicht den üblichen Abgeordneten die fremdsprachigen Worte verständlich machen, sondern Schülern aus ganz Europa. Es ist Euroscola-Tag. Insgesamt 600 Schüler versammeln sich heute im EU-Parlament.
Endlich stehen die Schüler der Höheren Lehranstalt für Wirtschaftliche Berufe in Steyr vor dem Gebäude, über das sie in den letzten Monaten so viel gehört haben. Die 16- bis 18-Jährigen tauchen einen Tag lang in die Welt eines Abgeordneten. Sie stellen Anträge, ändern diese ab, diskutieren sie, verwerfen sie oder nehmen sie an.
Im Schulfach Politische Bildung und in extra angelegten, klassenübergreifenden Zusatzstunden, die Begleitlehrerin Eveline Fink organisierte, haben sie sich über die Institutionen der EU informiert. Retrospektive Seufzer über den organisatorischen Aufwand oder die zusätzliche Arbeit in Form von Essays, Referaten und Gruppendiskussionen sind spätestens beim Anblick des gläsernen Gebäudes verflogen.
Schon beim international gemischten Frühstück tauscht man sich vorab mit den Sitznachbarn im Parlament aus. "Sobald du mit jemandem im Gespräch bist, ist es einfach, eine interessante Konversation zu führen. Aber vorher musst du halt die Schüchternheit überwinden", erzählt Sarah. Nachdem über den Verlegenheitsschatten gesprungen wurde, werden die Jugendlichen in den Plenarsaal des Europäischen Parlaments gebeten. Die Lehrer dürfen als stille Beobachter in den letzten Reihen auf ihre Schützlinge hinuntersehen.
Als ob sie jeden Tag auf dem Podium stünden, stellen die Repräsentanten ihre Schule und Heimat auf Englisch vor. "Ein Schotte hat sogar extra Französisch geredet, weil Englisch ja seine Muttersprache ist", sagt die 18-jährige Antonia bewundernd. Wäre da nicht der Schottenrock gewesen, hätte sie ihn "glatt für einen Franzosen halten können". Die Jugendlichen seien zwar vorbereitet, "aber in dieser Situation werden sie ins kalte Wasser geworfen und müssen schwimmen - so lernen sie für sich am meisten", sagt Fink.
In den Sitzungssälen der Ausschüsse kommt man zum wahrscheinlich wichtigsten Teil von Euroscola. Die schon vor der Reise erarbeiteten Themenkreise, wie etwa erneuerbare Energiequellen oder Integration, werden nun in größeren Gruppen diskutiert. Aus diesen Reihen werden ein Verfasser und ein Sprecher gewählt, die bei der anschließenden Plenarsitzung die Ergebnisse ihrer Kollegen präsentieren. Anya hat sich dafür gemeldet. "Ich bin ziemlich nervös, aber kann später sagen, schon mal im EU-Parlament gesprochen zu haben." Auch finde sie es wichtig, sich als Frau bei Gelegenheiten wie diesen zu melden, denn nach wie vor sei Politik ein männerdominiertes Feld. "So kann ich wenigstens ein kleines Zeichen setzen." Nach getaner Arbeit geht es zurück in den Plenarsaal, wo über die Vorschläge abgestimmt wird. Die Bilanz ist sehr zufriedenstellend: Alle Anträge werden angenommen.
Keine trockene Theorie mehr
Mit Flagge in der Hand kommen die Schüler ein letztes Mal in die Mitte des Saals. Die Europahymne erklingt. Ein paar Minuten, in denen die Eindrücke verinnerlicht und an ein besonderes Plätzchen im Langzeitgedächtnis transferiert werden. "Nach den heutigen Erfahrungen interessiere ich mich noch mehr für die EU", sagt Sarah, "weil man die trockene Theorie jetzt live miterleben und ausprobieren hat können." Zwar muss die HLW Steyr nun die Plätze im Parlament wieder hergeben, doch das politische Engagement und die erlangten Erkenntnisse werden sie sicherlich noch länger als die achtstündige Busfahrt nach Hause begleiten. (Milena Klien aus Straßburg, DER STANDARD, Printausgabe, 22.2.2012)