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Wenig Verantwortung, kaum Aufstiegsmöglichkeiten: Es gibt großen Reformbedarf bei Pflegeberufen, konstatieren Christa Lohrmann und Ursula Frohner.

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Christa Lohrmann ist Krankenschwester, Diplompflegepädagogin und Pflegewissenschaftlerin. Seit 2006 hat sie eine Professur an der Med-Uni Graz.

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Ursula Frohner ist Präsidentin des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbandes und Vorsitzende der Österreichischen Pflegekonferenz. Sie war 23 Jahre als diplomierte Gesundheit- und Krankenpflegerin tätig.

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Standard: 30.000 bis 50.000 Pflegekräfte gehen in den nächsten 15 Jahren in Pension. Droht ein Pflegenotstand?

Frohner: Wenn wir nicht rechtzeitig gegensteuern, ja.

Standard: Wie gegensteuern?

Frohner: Der Pflegeberuf muss attraktiver werden. Das beginnt mit einer besseren Ausbildung und einer klaren Definition der Kompetenzen. Die Pflege ist kein Hilfsberuf, sondern eine eigenständige Profession. Leider werden heute diplomierte Krankenschwestern mit vielen Tätigkeiten befasst, für die sie überqualifiziert sind.

Standard: Warum bleiben die meisten nur acht bis zehn Jahre im Beruf?

Frohner: Pflegeberufe sind körperlich und seelisch sehr belastend. Auch die Arbeitszeiten und das Image sind nicht sehr attraktiv. Die meisten steigen sehr jung ein, arbeiten dann zwei bis drei Jahre, bekommen Kinder und kehren im Schnitt nach fünf Jahren wieder in den Beruf zurück. Andere wiederum überladen sich meist aus finanziellen Gründen mit verschiedenen Nebenjobs und sind deswegen ausgebrannt.

Lohrmann: Der Beruf leidet auch darunter, dass es keine Karriereleiter gibt. Man hat nur sehr wenige Möglichkeiten, sich weiterzuentwickeln. Bei der Ausbildung ist Österreich international Schlusslicht. Es ist in den letzten Jahren schon viel geschehen, aber es gibt immer noch einen großen Aufholbedarf. In den USA gab es bereits 1907 die erste Pflegeprofessur an der Yale-Universität.

Standard: Fordern Sie für Krankenschwestern einen Universitätsabschluss ?

Lohrmann: Sicher nicht. Wir brauchen unterschiedliche Qualifikationen. Es gibt Pflegende, die nur in der Praxis arbeiten wollen. Nicht jede möchte in die Wissenschaft und Forschung. Wir brauchen aber zunehmend akademisch ausgebildetes Pflegepersonal, das sich spezialisiert und komplexe Versorgungsaufgaben übernimmt.

Frohner: Wichtig ist die Zirkulation des Wissens - von der Praxis in die Wissenschaft und wieder zurück. Alle Gesundheitsberufe sollten zu Beginn ihrer Ausbildung ein gemeinsames Modul haben - mit Grundkenntnissen über Reanimation, Hygiene, Gesprächsführung oder Ökonomie erwerben.

Standard: Bessere Ausbildung wird zumeist auch besser bezahlt. Wird die Pflege dadurch zu teuer?

Frohner: Leistung und Kompetenz müssen natürlich honoriert werden. Aber wenn wir die Aufgaben im System neu aufteilen und alles etwas weniger medizinlastig sehen, dann wird es insgesamt nicht teurer. Die Ärzte müssten sich ebenfalls von bürokratischen Aufgaben freispielen. Es wäre hoch an der Zeit, dass wir gemeinsam mehr Verwaltungspersonal fordern. Wir brauchen einen Skill-Mix für effizientes Arbeiten im Krankenhaus. Die Pflege ist nicht der verlängerte Arm der Medizin.

Lohrmann: Auch außerhalb der Spitäler gibt es Möglichkeiten zur Kooperation. In vielen Ländern ist die Pflege bereits der Dreh- und Angelpunkt in der ambulanten Versorgung. Dazu braucht sie allerdings mehr Kompetenzen und eine entsprechende Ausbildung auf Masterniveau.

Standard: Wie funktioniert das?

Lohrmann: Die "Family Nurse" zum Beispiel hat eine Spezialausbildung und betreut Familien in unterschiedlichen Lebensphasen - wenn ein Kind zur Welt kommt, ein Ehepartner schwer erkrankt oder die Eltern pflegebedürftig werden. Die Pflegende ist kontinuierlich mit der Familie in Kontakt und kann flexibel auf aktuelle Bedürfnisse reagieren oder Gesundheitsförderung betreiben.

Frohner: Eine bessere Primärversorgung wäre auch bei uns wichtig - vor allem für chronisch Kranke. Dazu müsste man Medizin und Pflege gleichberechtigt zusammenbringen. Und die Sozialversicherung müsste diese Leistungen auch bezahlen, was sie derzeit nur eingeschränkt tut.

Standard:Gibt es Vorbilder für Pflege neu?

Lohrmann: In Schweden und Finnland gibt es "Nurse led Clinics" für bestimmte Patientengruppen, die von Pflegenden selbstständig geleitet werden. Manchmal betreiben sie mit Ärzten auch gemeinsame Praxen - als gleichberechtigte Partner. Hier gibt es Potenzial, viel Geld einzusparen. Denken Sie an Patienten, die von einem Arzt zum anderen pilgern, aber im Grunde nichts anderes brauchen als eine Stärkung ihrer Selbstpflegefähigkeit. Es geht oft nicht ums Heilen, sondern darum, dass Patienten mit ihrer Erkrankung zurechtkommen.

Standard:Krankenschwestern dürfen in Österreich derzeit nicht mal ein Schmerzmittel ohne ärztliche Verordnung verabreichen ...

Frohner: Wir brauchen dringend eine Verordnungskompetenz für pflegerelevante Produkte wie Verbandsmaterial, Inkontinenzeinlage oder Desinfektionsmittel. Es kann ja nicht sein, dass man für jede Wattetupfer einen Mediziner um Erlaubnis fragen muss. Aber derzeit sind die Gesetze und Verwaltungsstrukturen so.

Standard: Ist das veränderbar?

Frohner: Wir brauchen mehr Kooperation und weniger Konkurrenzdenken. Die Babyboomer-Generation geht in den nächsten Jahren in Pension - sowohl bei den Ärzten als auch in der Pflege. Die, die übrigbleiben, werden sich die Aufgaben neu aufteilen müssen.

Lohrmann: Das war auch der Ursprung des "Advanced Practice Nursing" in den USA. Weil in den ländlichen Gebieten die ärztliche Versorgung nicht mehr gewährleistet war, haben die Pflegenden mehr Aufgaben und Kompetenzen bekommen. Es ist in den letzten Jahren auch in Österreich schon viel passiert. Wir brauchen aber mehr Unterstützung von der Politik. Die muss sehen, was die Pflege in der Lage ist zu leisten.

Standard: Wo ist die Politik gefordert?

Frohner: Fast in ganz Europa sind zwölf Schuljahre die Mindestausbildung für den Pflegeberuf. Auch Österreich muss endlich diese Vorgabe umsetzen. Derzeit sind wir nicht in das europäische Bildungssystem integriert und haben daher auch Probleme, international zu arbeiten. Wir fordern auch, dass die Politik gesundheitspolitische Themen vermehrt mit allen Gesundheitsberufen bespricht. Im Augenblick wird zumeist nur mit den Ärzten geredet.

Standard:Die Ärzte haben eine starke Kammer. Wer vertritt die Pflege?

Frohner: Wir haben derzeit keine gesetzlich legitimierte Standesvertretung, die alle Pflegenden - angestellte und freiberufliche gemeinsam - vertritt. Die bräuchten wir aber, um bei Gesetzen mitreden, Expertenwissen einbringen, Berufslisten führen oder Qualifikationen dokumentieren zu können. Oft sind die Ärzte versucht, für die Pflege gleich mitzureden. Der Österreichische Gesundheits- und Krankenpflegeverband bemüht sich nachhaltig, die Themen der Pflegefachpersonen im politischen Diskurs zu vertreten.

Lohrmann: Es gibt einen schönen Vergleich: Früher hatte man das Bild vom Mediziner als allwissendem Vater, von der Pflegenden als mitfühlender Mutter und vom Patienten als Kind. Mittlerweile ist der erwachsen geworden und will gemeinsame Entscheidungen treffen - zusammen mit allen Beteiligten. (Andrea Fried, DER STANDARD Printausgabe, 27.02.2012)