Der beste Selbsterhalt ist immer noch der Erhalt der eigenen Würde.
In den 90er-Jahren führten die österreichischen Krankenversicherungen den Selbstbehalt ein, weil sie der Ansicht waren, das Gesundheitssystem sei kein Selbstbedienungsladen für die, die diesen mit ihren Versicherungsraten bestückten. Noch weitere lustige Ideen brachte der Katalog der neoliberalen Grausamkeiten mit sich. Da die statistische Lebenserwartung erfreulicherweise gestiegen war, erkannte man, dass das Leben als Pensionsversicherungszahler zu kurz, das als Pensionsbezieher zu lang dauere. Denen aber, welche die Frechheit besaßen, sich nicht an die Statistik zu halten, die also nur in den Pensionstopf zahlten, ohne etwas zu nehmen, weil sie rechtzeitig sterben würden, musste man eine andere Schuld zuweisen: Sie belasteten die Krankenversicherung mit ihrer ungesunden Lebensführung. Ist der Staat einmal zum Apportierhündchen der freien Marktwirtschaft mutiert, bellt er immer dieselbe Botschaft: Der Mensch kostet zu viel.
"Hat die Welt erst einmal angefangen, uns schlecht zu behandeln", wusste Jonathan Swift, "dann setzt sie fürderhin diese Behandlung mit immer weniger Skrupel oder Formalitäten fort, so wie es Männer mit einer Hure tun." Dreißig Jahre empirischer Erfahrung lehrten das System, dass sich die Gedemütigten stets entschuldigen, wenn man ihnen gegens Knie tritt. In der Gesundheitspolitik, die sich von einer Sozial- zu einer Disziplinierungspolitik zurückentwickelt, zeigt sich das am deutlichsten.
"Der Staat kann auf keinen einzigen Mitarbeiter verzichten. Also muss jeder Staatsbürger gesund sein, um seinen Pflichten gegen den Staat nachkommen zu können. Krankheit ist demnach Pflichtversäumnis. Es ist ein Verbrechen gegen den Staat, krank sein zu wollen, um in den Genuss irgendwelcher Fürsorge zu gelangen." Karl Kötschau schrieb das 1935, er war Leiter der Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde – seit seinen Zeiten hat sich einiges geändert: Eingelullt vom nicht eingelösten Phantasma der Individualität ist der Staatsbürger zum Manager seiner eigenen Funktionalität geworden. Der einstige Volkskörper hat sich in Millionen selbstverantwortliche Monaden aufgelöst, der Staat und seine kommunalen Institutionen jedoch sind eine schmollende Prostituierte, die das Geld nicht mehr rausrücken kann, das sie ihrem Zuhälter, der Wirtschaft, zugesteckt hat. Deshalb hält sie nochmals frech die Hand auf mit dem Vorwurf, zu ungesund oder zu lange zu leben, als dass man die bereits bezahlten Leistungen so mir nichts, dir nichts konsumieren dürfe.
Natürlich weiß das System, dass die gestiegenen Gesundheitskosten nicht dem Sodom und Gomorrha der schlechten Lebensführung, sondern der erhöhten Lebenserwartung geschuldet sind, dem erfreulichen Umstand also, ein Alter erreichen zu dürfen, wo man seinen Krebs oder Schlaganfall noch erleben darf. Doch kann es nicht davon lassen, die administrierte Masse so lange zu bevormunden, bis diese sich tatsächlich selbst die Schuld gibt am Raub ihrer Sozialleistungen. Wenn die Kasse knapp wird, muss man den Nettozahlern suggerieren, sie seien Parasiten.
Und wo potenzielle Citoyens noch immer Untertanen sind, funktioniert das prächtig. So wie die Nazis aufgrund ihrer eklatanten Einsparungen bei medizinischer Forschung und Pharmakologie auf Naturheilkunde und den Hausarzt als den Blockwart der Volksgesundheit setzten, wird auch heute wieder der Allgemeinmediziner als Vollzugsorgan der Einsparungspolitik zwischen Patienten und Fachmedizin geschoben. – Und wird seiner Rolle gerecht, die ihm der französische Arzt Jacques-René Tenon 1788 als Aufgesang zum Umschlag von Aufklärung in Totalitarismus zuwies: "Neben seiner Rolle als Techniker der Medizin spielt er eine ökonomische Rolle bei der Verteilung von Unterstützungen, ja eine moralische und gleichsam richterliche Rolle bei ihrer Zuweisung. Er ist also zum Wächter der Moral wie der öffentlichen Gesundheit geworden."
Beispiellos aber ist die Diskrepanz zwischen den Ansprüchen moderner Demokratie und der Verwaltung und Infantilisierung ihrer Staatsbürger, welche sich im Bonussystem der SVA manifestiert, das wie jedes System der paternalistischen Belohnung zugleich eines der indirekten Bestrafung ist, zu deren Konkretion sie bloß das lebensreformerische Vorspiel liefert.
Die sadistische Pointe liegt darin, dass die gesundheitlichen Prämissen des Bonussystems – außer dem schädigenden Einfluss des Zigarettenrauchs – nichts als zweifelhafte Allgemeinplätze sind, die von einer skeptischen Wissenschaft relativiert wurden, aber sich als Plaque im allgemeinen Bewusstsein sedimentiert haben, vor allem in dem der Gesundheitsfunktionäre. Ein Allgemeinmediziner, der kein Allgemeinplatzmediziner wäre, würde uns in seiner Ordination nämlich ins Vertrauen ziehen, dessen er sich wie folgt als würdig erwiese:
Lieber Patient, liebe Patientin, ein Großteil unserer Gewissheiten über Gesundheit ist ideologisch und zu simpel. Die Forschung hat epochale Fortschritte gemacht, vor allem den, dass wir jetzt erst wissen, wie wenig wir wissen.
Täglich aufs Neue werden alte Dogmen umgestoßen. Dass das System den Menschen zur Maus macht, darf nicht zu dem Schluss verleiten, die Ergebnisse von Mäusestudien seien auf ihn anwendbar. Wir brauchen keine Biochemiker und Ernährungsphysiologen sein, um zu ahnen, dass all die Dichotomien von gesund und ungesund, Oxidantien und Antioxidantien manichäische Surrogate von moralischen Wertungen sind, die ins angeblich aufgeklärte wissenschaftliche Weltbild sich eingeschlichen haben und in Union mit Gläubigkeit und Machbarkeitshybris zu jener hoffentlich bald historischen Phase gehören, die man dereinst als die "Flegeljahre der Vernunft" bezeichnen wird.
Es ist dumm und überholt, Millionen individueller Stoffwechsel über den Leisten eines technischen Mechanismus zu schlagen. Die Vitamintablette bei einsetzendem Schnupfen und Joggen zur Steigerung der Konkurrenzfähigkeit werden in naher Zukunft noch als magische Praktiken erkannt werden wie das Durchbohren von Puppen oder Küssen von Ikonen. Die Wirklichkeit schillert unendlich komplex und schön wie das Nordlicht, sie zeigt uns zum Beispiel, dass ein Oxidans unter bestimmten Bedingungen antioxidantisch reagieren kann und umgekehrt, dass Vitamine unter bestimmten Bedingungen kanzerogen wirken und wuchernde Zellen unter bestimmten Bedingungen andere schützen, dass unsre Vorstellungen von gesund und ungesund und unsre magischen Manipulationspraktiken und monokausalen Schlüsse also Äonen entfernt sind von dieser Wirklichkeit, zu deren Verständnis hin die Wissenschaft, nicht die Gesundheitsbürokratie, dennoch fleißige Siebenmeilenschritte macht.
Alle, ich wiederhole, alle bislang damit befassten Studien bezeugen eine Korrelation von leichtem Übergewicht sowie von regelmäßigem, aber mäßigem Alkoholgenuss mit höherer Lebenserwartung. Wer aber häufig abnimmt, wird häufiger übergewichtig und stirbt früher. Statistisch gesehen. Es stellt sich nun die Frage: Plant die SVA einen Genozid? Und sollen wir praktischen Ärzte deren Auftragskiller werden? Reicht es nicht, Versicherte durch demütigende Sanktionen zu entmündigen?
Der größte oxidative Stress, alles weist darauf hin, wird durch Stress selbst verursacht, durch Angst, Leistungsdruck, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, geringe soziale Mobilität, Unbehagen. Dass Adipositas in den US-Unterschichten epidemisch zugenommen hat mit Fastfood allein zu erklären, ist selbst ideologische Abwehr einer weitaus tiefer greifenden Diagnose, welche eine rein gesellschaftliche sein muss und deren Therapie weniger kosten, aber mehr erfordern würde als Wellnessterror und kollektive Körperzucht ...
Und nun sage ich Ihnen die Wahrheit: Das vergnügt verzehrte Schnitzel bleibt gesünder als der verzweifelt zerkaute Blattsalat, der Spaziergang zum Wirtshaus gesünder als der verbissene Marathonlauf und gar kein Selbstbehalt gesünder als ein halber. Was aber als erwiesen gilt: Der beste Selbsterhalt ist der Erhalt des eigenen Stolzes, der eigenen Würde – sie verpassen dem Immunsystem titanische Wellnessschübe, und man holt sie sich am besten durch Widerstand zurück, durch unabhängiges Denken und die Weigerung, sich zum Trottel machen zu lassen. Somit kommen wir zur Therapie, und zwar für uns beide, denn beide sitzen wir im selben Boot. Der Tag ist schön, ich sperr die Praxis zu. Lassen Sie uns gemeinsam fett essen gehen, und hier, nehmen Sie einen meiner Golfschläger, danach lustwandeln wir ins Gesundheitsministerium und in die Zentrale der SVA und lehren die Herrschaften Liegestütz. Das wird ein Spaß.
Eine solche Ärztin, einen solchen Arzt würde ich auf der Stelle küssen, hafteten an ihr, an ihm nicht so viele eklige Keime. (Richard Schuberth, DER STANDARD/ALBUM – Printausgabe, 25./26. Februar 2012)