Peter Eigen (Gründer von Transparency International), Heiner Geißler (CDU-Politiker), Alexandra Föderl-Schmid, Christoph Schönborn, Gesine Schwan (v. l.).
Foto: Matthias Cremer

Wettbewerb als Motor für die Wirtschaft ist gut, solange er zwischen Unternehmen stattfindet. Verlagert er sich aber auf Nationalstaaten, so wird er zur Gefahr, befanden die Teilnehmer der Diskussionsreihe "Europa im Diskurs".

Es begann als sonntägliche Diskussion über die Verträglichkeit von Kapitalismus und europäischen Wertesystemen und gipfelte dann in einer " Sonntagspredigt". Doch diese hielt nicht Christoph Kardinal Schönborn, sondern der ehemalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler: "Der Kapitalismus muss dem Menschen dienen, aber heute ist es umgekehrt, und das ist seine Todsünde. Der entfesselte Kapitalismus verletzt die menschliche Würde."

Das Institut für die Wissenschaften vom Menschen, die Erste-Stiftung, das Wiener Burgtheater und der Standard hatten im Rahmen der Reihe " Europa im Diskurs" dazu eingeladen, das Thema "Geld und Moral: Ist Europas Wertesystem in Gefahr?" zu diskutieren. Und gleich am Titel der Matinee rieb sich die deutsche Politologin Gesine Schwan, 2004 und 2009 Präsidentschaftskandidatin der SPD. Die Präsidentin der Humboldt-Viadrina School of Governance in Berlin meinte, es gebe kein exklusives "europäisches", sondern eher ein universales Wertesystem: Menschenrechte seien nicht allein eine Domäne Europas.

Schwan konstatierte eine Krise vor allem in Bezug auf Gerechtigkeit und Solidarität. Sie kämen zu kurz, seit durch die Globalisierung der Wirtschaft nicht nur Unternehmen, sondern ganze Nationalstaaten zueinander in Konkurrenz stünden. "Das hat eine entsolidarisierende Wirkung."

Schönborn, der die Matinee als eine Gelegenheit für eine "säkulare Sonntagsliturgie" sah, wies darauf hin, dass Papst Johannes Paul II. bereits 1991 in seiner Sozialenzyklika Centesimus Annus auf die Gefahren des modernen Kapitalismus hingewiesen habe. Und tatsächlich habe dessen Schrankenlosigkeit 2008 zur Krise geführt. Was könne man nun tun? " Umkehren und den Weg neu beschreiten, so wie Sie es von Ihrem GPS-Navigationsgerät kennen, wenn Sie sich verfahren haben."Geißler fragte Schönborn, warum sich die katholische Kirche seit dieser Enzyklika nicht stärker mit sozialethischen Fragen beschäftigt habe, statt sich vorrangig mit Sexualmoral zu befassen und sich sukzessive von der Welt zu entfernen. "Die Kirche ist immerhin nach wie vor der Global Player schlechthin; mit einer Milliarde Mitglieder", meinte Geißler. Schönborn räumte eine "lehramtliche Karenz in sozialethischen Fragen" ein, erklärte aber auch, dass jeder einzelne Katholik selbst wichtiger Teil der Kirche sei – nicht nur die Bischöfe. Für Schönborn führe die Debatte um "Werte" in der Wirtschaft nicht weit genug. Er propagiere in Anlehnung an den griechischen Philosophen Aristoteles eine Diskussion um " Tugenden". "Jeder hat einen Genierer, ein Gewissen", sagte der Kardinal. Eine universelle Wertedebatte müsse um diesen ins Persönliche gehenden Faktor ergänzt werden. Dem stimmte Schwan zu, es seien aber politische Institutionen nötig, die sich gegen den "entfesselten Markt durchsetzen können. Am Markt, der auf Unanständigkeit aufgebaut ist, werden Sie nicht für Ihre Tugenden, sondern nur für Ihren Erfolg geachtet."

Entmachtung der Politik

Wie die Politologin Schwan stellte auch Peter Eigen, ehemaliger Weltbank-Jurist und 1993 Gründer der NGO Transparency International, einen massiven Verlust von Solidaritätsdenken in der Gesellschaft fest – das führe zur Entmachtung auch der Politik. "Wir begehen den Fehler, uns auf nationale Regierungen zu verlassen, die globale Probleme lösen sollen. Das können sie nicht, sie haben nicht die Durchsetzungsfähigkeit dafür. Die organisierte Zivilgesellschaft muss dieses Vakuum ausfüllen helfen."

Eigen beschwor ein "magisches Dreieck", in dem Regierungen, die Zivilgesellschaft und die Privatwirtschaft idealtypisch in einem gegenseitigen Abhängigkeits- und Beeinflussungsverhältnis stehen. "Was wir brauchen, ist eine Domestizierung der Wirtschaft im Interesse der Zivilgesellschaft."

Womit er bei Geißler offene Türen einrannte: "Der Mensch ist umso mehr wert, je weniger er kostet", wetterte Geißler und übte Kritik an der Rhetorik gewisser Politiker und Wirtschaftsführer. Es sei eine Lüge, dass es nicht genug Mittel zur Armutsbekämpfung gebe. "Es gibt Geld wie Heu, es ist bloß in den Händen der falschen Leute!" Geißler zufolge gebe es weltweit über 130 Billionen Dollar an "free flowing money", das von nur wenigen Tausend Entscheidungsträgern in der Hochfinanz verwaltet – und vermehrt – werde. Für Geißler sei es hoch an der Zeit, eine internationale Finanztransaktionssteuer einzuführen. "Das ist der Skandal: dass die Politik sich nicht gegen das Diktat der Finanzmärkte durchsetzen kann."

Wie die Bändigung dieser "entfesselten Marktwirtschaft" aussehen könnte, darüber gab es dann in Details unterschiedliche Ansichten – im Prinzip herrschte aber Einigkeit: Schwan warnte einmal mehr vor der Konkurrenz von Nationalregierungen untereinander. Diese habe unter anderem fatale Auswirkungen auf das Lohnniveau. Änderungen am System könnten aber nur peu à peu und nicht mit einem einzigen großen Kraftakt erfolgen.

Ganz mit der Rhetorik eines Jugendlichen bezeichnete der 81-jährige Geißler es als "knallharte Pflicht", jenen Menschen zu helfen, die durch die globalisierte Wirtschaft zu kurz kämen. Man müsse entschlossen agieren, sonst müsse man die heutige Jugend als verloren betrachten. " Wenn wir nicht handeln, wird die Revolution, die wir in Nordafrika gesehen haben, auf Europa übergreifen. Und wir haben' es gewusst, bloß geschaut und nichts getan."

In die gleiche Richtung argumentierte Transparency-Gründer Eigen. Die Politik müsse das Engagement der internationalen Zivilgesellschaft fördern, gemeinsam könnten sie – da sei er optimistisch – ein starker Faktor werden, der Dinge verändern könne.

"Berührende Predigt"

Der Kleriker Schönborn dankte dem Laien Geißler für dessen "berührende Sonntagspredigt". "Ja, das Wirtschaftssystem muss geändert werden, aber ohne das Engagement einzelner Samariter wird sich nichts ändern", meinte der Kardinal und führte Mutter Teresa von Kalkutta als Beispiel an: Sie habe nicht vorgehabt, allein das ganze ungerechte Kastensystem in Indien zu verändern, ihr Beispiel habe dennoch globale Auswirkungen gehabt.

Die "Burgtheater-Liturgie" ging denn auch mit einem Appell von Geißler zu Ende: Der in Deutschland immer wieder als "Herz-Jesu-Marxist" titulierte CDU-Politiker forderte "eine neue Aufklärung, denn wir leben in einer unmündigen Gesellschaft. Wenn wir jetzt handeln, so ist das bloß die politische Dimension von Nächstenliebe." (Gianluca Wallisch, DER STANDARD, Printausgabe, 27.2.2012)