Wolfgang Petritsch, Wilfried Graf, Gudrun Kramer (Hg.):

" Kärnten liegt am Meer"

Drava/Heyn 2012

Foto: Drava/Heyn

Im Haus Österreich gibt es Menschen, "die von der Politik in den Vergangenheitskeller gesperrt worden sind, wo sie von ihren eigenen Erinnerungen attackiert und vergiftet werden." Dieses Bild aus einem Roman von Maja Haderlap zitiert der Friedenspädagoge Werner Wintersteiner, um die Schwierigkeiten des Zusammenlebens in Kärnten zu illustrieren. Familiengeschichten sind gefärbt, belastet und belastend, Feindbilder scheinen mächtig und unverrückbar, zu viel wird verschwiegen. Und "jenseits der Sprache bricht die Gewalt los" - wieder ein Zitat, diesmal von Peter Handke.

Es gehe auch anders, sagt Wintersteiner, es gebe Hoffnung auf "eine Art gemeinsames kleines Europa innerhalb des großen gemeinsamen Europa". Sein Plädoyer ist Teil einer außergewöhnlichen Sammlung von Essays, Analysen und Interviews, für die er auch den Titel vorgeschlagen hat: Kärnten liegt am Meer, in Anlehnung an ein Gedicht Ingeborg Bachmanns, die ihn ihrerseits bei Shakespeare nachgelesen hat, und sie alle meinen: einen utopischen, herbeigesehnten Zustand, einen Blick über die Grenzen. So auch das vorliegende Buch, mit Konfliktgeschichte/n über Trauma, Macht und Identität im Untertitel. Es ist der sehr gründliche Versuch, die lange und tragische Geschichte des kärntnerisch-slowenischen (Nicht-)Zusammenlebens im Wortsinn einzusehen, so in sie hineinzusehen, dass ein besseres Verständnis möglich wird. Die Aussichten sind einerseits günstig: Die Kompromisslösung von 2011 beinhaltete ja mehr als nur ein Ende des Ortstafelstreits, viele sind der ewigen Auseinandersetzungen müde, die wirtschaftlichen Kräfte setzen auf Konsens.

Andererseits schwelen immer noch die alten Feindseligkeiten. Hautnah spürt man sie in manchen der 20 Gespräche mit Landesbewohnern, von Expartisanen bis zum deutschnationalen, vor kurzem verstorbenen Otto Scrinzi. Es war typisch für die verhärteten Fronten, dass seinetwegen einige alte Gegner die Mitarbeit am Buch absagten; aber es war ein Verdienst der Herausgeber, auf der ganzen Bandbreite zu insistieren. Das solle man nebeneinander stehen lassen, so sei Kärnten eben, meint der Diplomat Petritsch, der, zweisprachig in Glainach/Glinje aufgewachsen, weiß, wovon er spricht: "Es geht darum, das gegenseitige Anschweigen zu durchbrechen." Graf und Kramer vom Herbert-C.-Kelman-Institut für Interaktive Konflikttransformation analysieren die Chancen einer ehrlichen Aufarbeitung der Vergangenheit auf allen Seiten. Ein Indiz dafür ist der bemerkenswerte Dialog zwischen dem Obmann des Kärntner Heimatdienstes, Josef Feldner, und dem Obmann des Zentralverbandes slowenischer Organisationen, Marjan Sturm, in diesem Band.

Es wird noch viel zu tun geben. Zufriedenes Schulterklopfen ist nicht angesagt und soll es auch in Zukunft nicht sein, ebenso wenig allerdings die Haltung sich liberal und urban dünkender Wiener, die alles, was aus Kärnten kommt, als unverbesserlich hinterwäldlerisch abqualifizieren. Die wahre Arbeit liegt dazwischen, von ihrem Erfolg könnten alle Parteien profitieren. Denn der Buchtitel bedeutet, wie die Herausgeber betonen, umgekehrt auch: Udine liegt an der Drau/Drava, Ljubljana liegt am Wörthersee. (DER STANDARD, Printausgabe, 29.02.2012)