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Der ungarische Autor Péter Nádas: "Wenn ich etwas bin, dann bin ich linksliberal."

Foto: APA/NEUMAYR FRANZ

Wolf Scheller sprach mit dem Schriftsteller über die Entstehung des Buches, die Liebe zur Fotografie und die Gegenwart Ungarns.

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STANDARD: An Ihrem neuen Werk "Parallelgeschichten" haben Sie 20 Jahre lang gearbeitet. Hatten Sie eine konkrete Intention?

Nádas: Ich hatte eine strukturelle Vorstellung - eine lange Erfahrung, als ich mit Parallelgeschichten angefangen habe. Aus dieser Erfahrung wusste ich, was ich will. Ich wusste viel über die einzelnen Figuren, sonst hätte ich das vorherige Buch der Erinnerung überhaupt nicht beenden können.

STANDARD: Welches zeitgeschichtliche Ereignis hat Sie in diesen Jahren am meisten berührt? Der Fall der Berliner Mauer?

Nádas: Nein, ich habe das Buch der Erinnerung bereits 1985 beendet und im selben Jahr mit den Parallelgeschichten angefangen. Ich wollte mich wirklich von allen äußeren Zwängen freimachen, und ich machte mich frei.

STANDARD: Sie haben 1993 einen Herzinfarkt erlitten, der Sie an den Rand des Todes führte. Hat dies Ihre Arbeit beeinflusst?

Nádas: Schon. Da hatte ich schon fast sieben Jahre an den Parallelgeschichten gearbeitet, und es gab bereits eine große Menge vom Manuskript. Aber dieses Erlebnis hat mich bestärkt.

STANDARD: Denken Sie über Leben und Sterben nun intensiver nach?

Nádas: Ich habe keine Todesangst mehr. Aber diese Grenzerfahrung, dieses Schwellenerlebnis - das war einfach schön zu erleben. Nach diesem Erlebnis habe ich mein Buch umstrukturiert und mit Berlin und dem Mauerfall angefangen.

STANDARD: Haben Sie mit dieser Umstrukturierung den bürgerlichen Roman in seiner traditio nellen Form verlassen?

Nádas: Das nicht. Denn die Abläufe der Handlung in den einzelnen Kapiteln sind ganz bürgerlich geschrieben, auch die Passagen, die die Grenzen des bürgerlichen Anstands überschreiten sind ganz klassisch geschrieben. Es sind langatmige Erzählungen, und diese Erzählweise gehört zum 19. Jahrhundert. Aber diese offene Form der Darstellung, die ich entworfen habe, entspricht wahrscheinlich nicht den Vorstellungen des bürgerlichen Romans.

STANDARD: Sie kommen ursprünglich von der Fotografie her. Gibt es da einen Zusammenhang?

Nádas: Lange Zeit habe ich da keinen Zusammenhang gesehen. Ich weiß nicht, ob der Fotograf oder der Textmensch vorangegangen ist. Ich bin vielleicht mit beiden Interessen geboren. Ich sehe die Welt nicht als Bild, sondern mir sind Gedanken und Gefühle genauso wichtig. Aber wenn ich ein Bild sehe, ist das eben auch eine starke Prägung. Was Gedanken und Bild verbindet, ist Licht, Licht im Sinne der Mystik, der Metaphysik, also in allen Eigenschaften des Lichtes. Ich beschreibe sehr häufig Lichtverhältnisse.

STANDARD: Große Teile des Buches spielen im mitteleuropäischen Raum. Wie beurteilen Sie die gegenwärtige Situation in Ungarn?

Nádas: Das ist eine starke Regression, fast zwangsläufig.

STANDARD: Ihre Autorenkollegen haben vor einem Anwachsen des Antisemitismus und vor Feindseligkeit gegenüber Intellektuellen in Ungarn gewarnt.

Nádas: Ich würde nicht zwischen Bürgern mit jüdischer oder nichtjüdischer Abstammung unterscheiden. Das ist ein Problemkomplex, in dem Hass und Antisemitismus eine gewisse Rolle spielen. Richtig dramatisch ist die Situa tion für Roma.

STANDARD: Wie ließe sich denn der gegenwärtige Konflikt zwischen Budapest und Brüssel aus Ihrer Sicht beseitigen?

Nádas: Das weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht genau, ob es da einen Konflikt gibt, weil die europäischen Volksparteien dicht hinter Ministerpräsident Orbán stehen. Also scheint mir eher, dass Orbán sehr erfolgreich eine Problematik des politischen Lebens in Ungarn nach Brüssel exportiert hat. Über Berlusconi hat man in Brüssel geschwiegen, weil Italien ein großer Industriestaat ist. Eigentlich sollten Sie Frau Merkel fragen, was sie darüber denkt.

STANDARD: Aber Sie sind doch auch beschimpft worden, als Linksliberaler und als Landesverräter.

Nádas: Ja, wenn ich etwas bin, dann bin ich linksliberal. Aber das ist kein Schimpfwort. (Wolf Scheller; DER STANDARD - Printausgabe, 2. März 2012)