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Für die Einheit: Referendum 1992 in Bosnien.

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Sarajevo - "Zwischenfälle" meldeten die Agenturen, aber in den Kommentaren jener Tage überwog die Zuversicht, dass sich Spannung und Kriegsgefahr in Bosnien-Herzegowina jetzt legen würden. Am 29. Februar und 1. März 1992 stimmten 99,7 Prozent der Wähler in der zentralen jugoslawischen Republik für die Unabhängigkeit. Aber das Gegenteil der erhofften Wirkung trat ein: Nur fünf Wochen später begann der offene Krieg. Er dauerte dreieinhalb Jahre und kostete rund 100.000 Menschen das Leben. Über die Schuld am Krieg streiten die Mächtigen des Landes noch immer. Nach zwanzig Jahren Abstand macht eine neue Generation alle Seiten gleichermaßen für die Katastrophe verantwortlich.

Scharmützel in Slowenien

Bereits 1991 hatten sich drei der sechs Teilrepubliken von Jugoslawien losgesagt. Mazedoniens Abspaltung verlief friedlich, in Slowenien gab sich die jugoslawische Armee nach wenigen Tagen Scharmützel dem Willen der Bevölkerung geschlagen. In Kroatien dagegen wurde ein halbes Jahr lang Krieg geführt: Die serbische Minderheit wollte in keinem unabhängigen Kroatien leben und sicherte sich gegen die Autorität Zagrebs den Schutz der Bundesarmee. Erst nachdem sich die Spitzen der Europäischen Gemeinschaft auf deutschen Druck hin für die Anerkennung Kroatiens ausgesprochen hatten, hielt der Waffenstillstand. Der Entscheidung war ein monatelanges diplomatisches Tauziehen zwischen Paris, London und Bonn vorausgegangen. Auf dem historischen Gipfel von Maastricht setzten Helmut Kohl und sein Außenminister Hans-Dietrich Genscher sich durch: Kroatien und Slowenien wurden anerkannt.

Für die weitere Zukunft einigte sich Europa sich auf seine Art - mit einem bürokratischen Verfahren. Es gab eine klare Agenda, für alle galten die gleichen Regeln: Wollte eine weitere jugoslawische Republik von der Europäischen Gemeinschaft als selbständig anerkannt werden, musste sie erstens eine minderheitenfreundliche Verfassung vorweisen können und zweitens eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit abgehalten haben. Nächster Kandidat war Bosnien, das als einzige Teilrepublik kein tragendes Staatsvolk hatte. 44 Prozent der Einwohner waren Muslime, 33 Prozent Serben und 17 Prozent Kroaten. Die Muslime und die Kroaten wollten die Unabhängigkeit vom nunmehr serbisch dominierten Jugoslawien, die Serben nicht. Eine Regierung der drei Nationalparteien hatte sich völlig zerstritten. Bereits im Jänner hatten die Serben eine eigene "Serbische Republik" gegründet.

Dass Europa auf der Abstimmung bestand, war ein "strategischer Fehler", sagt der Balkan-Historiker Florian Bieber, denn sie habe "die Notwendigkeit, einen Kompromiss zu finden, stark reduziert". So gut wie alle Muslime und Kroaten stimmten für die Unabhängigkeit. So gut wie alle Serben boykottierten die Abstimmung; nur 63 Prozent der Bosnier gingen zu den Urnen. Krieg lag in der Luft. Am zweiten Tag der Abstimmung überfiel ein muslimischer Krimineller mit seinen Freischärlern eine serbische Hochzeitsgesellschaft in Sarajevo. Der Mord am Vater des Bräutigams wird von serbischer Seite heute für den Kriegsbeginn gehalten.

Mit Unterstützung gerechnet

Muslime und Kroaten rechneten nach der Volksabstimmung mit militärischer Anerkennung und militärischer Unterstützung aus dem Westen. Die Anerkennung kam, der Schutz nicht. Die Serben schufen mit Hilfe der Bundesarmee Fakten und vertrieben aus ihren Mehrheitsgebieten die Muslime; 1992 wurde das Jahr der "ethnischen Säuberungen". Der Hass war die Folge, nicht die Ursache des Kriegs. "Heute, nach zwanzig Jahren", sagt der serbische Philosoph Miodrag Zivanoviæ, "ist der ethnische Abstand größer als in den Kriegsjahren." (DER STANDARD Printausgabe, 2.3.2012)