Pelinka: "Sobald Europa will, hat es hervorragende Aussichten, sich militärisch auf die Ebene der USA zu heben. Der Vorteil der Unterrüstung spricht für Japan. Sobald Japan will, ist es ein politischer Mitspieler"

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Über die Notwendigkeit einer Einigung Europas als machtpolitischer Faktor spricht der Politologe Anton Pelinka mit Michael Freund

STANDARD: Wie würden Sie die Veränderungen im Verhältnis USA/Europa in den letzten Jahren beschreiben?

Pelinka: Es gibt schon sehr rasch nach der ersten Solidaritätsrhetorik zum 11. September eine Auseinanderentwicklung, die sich - nicht unbedingt für Europa - auf konkrete politische Inhalte bezieht. Die britische Position etwa ist politisch nicht wirklich von der amerikanischen entfernt, aber gesellschaftlich, klimatisch schon. Das hängt sicherlich damit zusammen, dass es in Europa eine Art Underdog-Situation gibt. Es gibt das Gefühl, vom Top Dog nicht ernst genommen zu werden. Aus der amerikanischen Sicht herrscht das Bild, dass der Goliath USA von den Liliputanern gefesselt werden soll, weil diese nicht akzeptieren, dass es diese Machtverteilung gibt. Diese Bilder verfestigen sich jetzt sicherlich auch verstärkt durch die Politik des gegenwärtigen amerikanischen Präsidenten. Das war unter Clinton nicht so, obwohl es unter jedem Präsidenten angelegt wäre.

STANDARD: England ist in politischer Hinsicht eine Ausnahme, wegen Sprache, Herkunft usw. – die Gründe bieten sich an. Was sich nicht anbietet, wofür aber viele - auch in dieser Serie - nach Gründen gesucht haben, das sind die Gründe für die negative Haltung auf dem Kontinent. Was wäre Ihr Beitrag zu der Suche?

Pelinka: Es gibt, vereinfacht gesagt, in Europa einen rechten und einen linken Pro- und Anti-Amerikanismus. Die könnte man auch personalisieren. Die rechte Anti-Haltung agiert unter dem Stichwort "Der kulturlose Amerikaner"; die linke hat die anti-imperialistischen Formeln. Umgekehrt gibt es linke Positionen, die amerikanische Lichtfiguren ausmachen, wie F.D.Roosevelt, während Ronald Reagan in der rechten Pro-Haltung in Europa sehr positiv besetzt ist.

Aber insgesamt gibt es die Meinung, bewundernd wie kritisch, den Amerikanern eine moralische Art und Zugangsweise zur Politik zu unterstellen.

STANDARD: Hat das nicht eine Entsprechung in der Wirklichkeit?

Pelinka: Hat sie teilweise. Umgekehrt, im Europabild der USA, ist das zynische Bild der machiavellistischen Europäer sehr ausgeprägt und die Haltung: Wir wollten uns in die schmutzigen europäischen Konflikte nicht einmischen; und das eigentlich schon seit 1815, nachdem die USA in die napoleonischen Kriege eingemischt hatten und ohne Gewinn ausgestiegen sind. Bis 1898, bis zum Spanischen Krieg, haben sich die USA aus den europäischen Konflikten herausgehalten.

Mit Woodrow Wilson und seinem Spruch vom Selbstbestimmungsrecht der Völker beginnt etwas, das die pro-amerikanische Haltung der Linken stark bestimmt, nämlich der demokratische Interventionismus. Das ist durch Roosevelt noch verstärkt worden. Diese Sichtweise hat jetzt an Bedeutung verloren hat, weil die Feindbilder nicht mehr existieren.

STANDARD: Dafür gibt es jetzt ein anderes Feindbild.

Pelinka: Das Feindbild 'Islamischer Fundamentalismus' wird, glaube ich, in Europa nicht mit der gleichen Intensität als Bedrohung empfunden, wie das beim Nationalsozialismus oder Kommunismus der Fall war.

STANDARD: Ist das Naivität, wie sie die Neo-Konservativen den Europäern unterstellen, oder hat das seine diskutierbare Berechtigung?

Pelinka: Es ist sicherlich anders in dem Sinn, als es nicht um Staaten, um territorial definierbare Systeme geht. Es ist also ein Feind mit einer neuen Qualität. Es gibt keine Hauptstadt, man kann mit ihm keinen Waffenstillstand abschließen. Es ist allerdings argumentierbar, dass langfristig das, was gegen New York und Washington gerichtet war, sich genauso gut morgen gegen London, Paris oder Berlin richten kann. Und Moskau sieht sich ja in einer gewissen Parallele: Der Anschlag (im November 2002) auf das Musical-Theater ist aus russischer Sicht eine Analogie zu 9/11. Daher gibt es da in Russland ein andere Befindlichkeit, und daher war zumindest nach dem November das beiderseitige Verhältnis besser denn je.

STANDARD: Die Westeuropäer sind ja auch, Umfragen zufolge, kritischer gegenüber Amerika als die meisten Osteuropäer. Und Japan hat, nebenbei gesagt, die höchsten Pro-Amerika-Werte gefolgt von England.

Pelinka: Es ist bei den postkommunistischen Ländern westlich von Russland ganz deutlich, dass die Nato-Mitgliedschaft für wichtiger gehalten wird und populärer ist als die EU-Mitgliedschaft – weil die Nato USA bedeutet. Das wirklich Interessante ist, dass diese Auseinandersetzung mit islamischem Terrorismus eine zunehmende russisch-amerikanische Allianz ergibt, wobei offenkundig auch China ein Parallelinteresse verspürt, wegen seiner Probleme mit islamistischen Tendenzen im eigenen Land.

STANDARD: Man hört als Argument andererseits, dass das gegenwärtige Kriegsszenario nur ein Vorgeplänkel für eine Auseinandersetzung mit China sei. Oder dass der eigentliche Konflikt am Horizont der mit Europa sei – wie das Charles Kupchan ausführlich ausmalt (in "The End of the American Era").

Pelinka: Im Ökonomischen ist das schon sehr deutlich. Es gibt die in der WTO ausgetragenen Konflikte über Amerikas Subventionen seiner Stahlindustrie bzw. über den Protektionismus auf dem europäischen Agrarmarkt. Ob sich diese Konflikte auch militärisch-strategisch artikulieren – da wäre ich sehr vorsichtig.

Vor allem aber ist Europa ja nicht wirklich konfliktfähig, solange es nicht als Einheit auftritt. Nur ein für mich sehr wichtiger Indikator: In den beiden Bretton-Woods-Institutionen, nämlich Weltbank und Internationaler Währungsfonds, tritt die EU nicht als Einheit auf.

STANDARD: Noch nicht.

Pelinka: Noch nicht. Aber immerhin gibt es schon seit einigen Jahren die Währungsunion, und trotzdem treten die Länder einzeln auf – was dazu führt, dass in diesen Institutionen in Wahrheit die zentrale Macht die USA sind. Andernfalls, bei einem einheitlichen Auftreten der EU, würde schon allein aufgrund des wirtschaftlichen Gewichts eine bipolare Situation entstehen.

STANDARD: Und warum ist das nicht so?

Pelinka: Also Vranitzky hat einmal gesagt: Naja, solange die einzelnen Finanzminister einmal im Jahr zur Weltbanktagung nach Washington fliegen und eine Rede halten können, werden sie das nicht aufgeben. Es gibt kleinliche nationale Interessen, und über die sind die Amerikaner natürlich froh.

Im Militärisch-Strategischen kann man das Gleiche sagen: Sobald die EU sich als wirklich agierende weltpolitische Einheit sieht, gibt es ein Gegengewicht. Aber die EU legt derzeit offenbar nicht wirklich Wert darauf.

STANDARD: Die Kritiker sagen, sie würde es eh nicht schaffen, und es sei sinnlos, der amerikanischen Militärmacht etwas entgegenstellen zu wollen.

Pelinka: Ich wäre sehr vorsichtig mit weiterführenden Prognosen. Derzeit ist es so. Doch wenn ich Paul Kennedy folge, Aufstieg und Fall der großen Mächte, dann sind die Mächte, die untergerüstet sind, die der Zukunft, und die Übergerüsteten steigen tendenziell ab. Auf die transatlantische Situation übertragen heißt das: Sobald Europa will, hat es hervorragende Aussichten, sich militärisch auf die Ebene der USA zu heben. Der Vorteil der Unterrüstung spricht im übrigen auch für Japan. Sobald Japan will, ist es ein - wenn auch nicht ganz gleichwertiger Akteur - politischer Mitspieler.

Das ist schließlich auch bei Kissinger nachzulesen. Der ist ungemein skeptisch gegenüber der Vorstellung, dass es eine amerikanische Hegemonie von Dauer geben kann. Er meint, dass die schlummernden Potenziale Europas und Japans, aber auch Chinas eine multipolare Situation herstellen werden, in der die USA nur einer der Akteure sein werden.

STANDARD: Wie stehen die Europäer jetzt, nach Evian und Akaba, da?

Pelinka: Die Situation kann als Ausdruck der Unfähigkeit Europas gesehen werden. Die Frage stellt sich: Wer ist überhaupt Europa? Der griechische Ministerpräsident, weil sein Land zufällig gerade den EU-Vorsitz hat? Giscard d’Estaing? Es fehlen die Strukturen, damit diese Organisation überhaupt agieren kann. Die 25 Staaten in Summe wären dazu fähig – wenn sie mehr wären als nur die Addition der einzelnen Teile.

Die Frage ist auch, ob sich die EU als militärische Größe verstehen will; denn der wichtigste Ausdruck der US-Hegemonie ist der militärische. In Nahost ist der Zug für die Europäer bereits abgefahren, das hat man sie deutlich wissen lassen. Die EU ist jetzt dort, wo Kreisky schon in den 70ern war, bei der einsichtigen Frage: Was soll ich da, wenn ich nicht gewünscht bin?

Interessant wird es allerdings bei Situationen wie eben im Kongo: Zum ersten Mal ist die EU im Auftrag der UN ohne die Nato tätig. Das ist eine Abkoppelung von den USA, und Frankreich hat sie vorgegeben.

STANDARD: Sie haben vor kurzem die Vermutung geäußert, dass Sie in Sachen EU/USA einer der wenigen marxistisch denkenden unter den Kritikern sind. Was meinen Sie damit?

Pelinka: Vom Marxismus kann man eine Erkenntnis mitnehmen: dass es keinen Sinn hat, dem Geschichtsablauf moralisch nachzuweinen; dass es eine normative Kraft des Faktischen gibt. Die "marxistischen" Kritiker der USA betreiben aber zumeist das: moralisches Nachweinen, Nachkeppeln. Es fehlt das Konzept der Gegenmachtbildung. Tendenziell auch bei Habermas, was mich nicht weiter überrascht, und bei Derrida (Die beiden haben in der FAZ vom 31. Mai einen Essay über "Europas Wiedergeburt" veröffentlicht). Man müsste aufhören, in den Kategorien Deutschland, Großbritannien, Frankreich etc. zu denken, und zu einem europäischen Narrativ kommen.

STANDARD: Skeptiker wie Tony Judt sagen, dass dies durchaus kein irreversibler Prozess sein muss.

Pelinka: Es steht tatsächlich schlecht um transnationale Gruppierungen, das zeigt, wie schlecht es um die EU bestellt ist.

STANDARD: Man hat den Eindruck, es gibt eine Pro-USA-Fraktion, die sich schlicht weigert, eine Lüge eine Lüge zu nennen, trotz einer wachsenden Evidenz, wenn ich an die ganze Kriegsgrund-Debatte denke. Es kommt mir vor wie bei einem Paradigmenwechsel: dass man eine bestimmte Weltsicht nicht aufgeben will, bis dann alles kippt. Bis man vielleicht draufkommen könnte, dass die USA tatsächlich nicht mehr der Hort der Freiheit sind.

Pelinka: Ein Wechsel hat vielleicht in der amerikanischen Wahrnehmung schon stattgefunden, auf einer anderen Ebene. Und die Kriegsgrund-Debatte spielt da mit hinein. Es wird schon so sein, dass das Pentagon die Geschehnisse selektiv konstruiert hat, aber seit 9/11 schien ein Militärschlag prinzipiell gerechtfertigt, und da ist man über Dinge, die einem das Handeln erleichtern, nur zufrieden.

STANDARD: Gerechtfertigt?!

Pelinka: Ich bin da ein Mainstream-Liberaler wie (der New York Times-Reporter und Autor) Thomas Friedman. Der argumentiert, dass es genügt hätte zu sagen, man will ein Unrechtregime beseitigen, das blutigen Terror sät.

Die wirkliche Gefahr, die ich sehe, ist, dass die USA das positive Ergebnis im Irakkrieg zum Muster nehmen für ein Verhalten, das sie überfordert. Es gibt ja keine balancierende Macht mehr, die USA sind weltpolitisch Ankläger, Richter und Exekutor in eigener Sache, werden aber andererseits die dadurch heraufbeschworene Kraft nicht kontrollieren können. Sie könnten - das ist auch das Argument Kissingers – versucht sein, sich weiterhin unilateral zu handeln, und dabei machtpolitisch schlicht überfordert werden.

STANDARD: Was fehlt Ihnen, wenn Sie drüben leben oder auf Besuch sind, was gefällt Ihnen dort besonders gut? Und vice versa für Europa?

Pelinka: Als nicht-permanenter Bewohner mag ich in den USA in den Milieus, in denen ich gelebt habe, eine größere gesellschaftliche Offenheit. In Europa gibt es in den Parallelmilieus eine geringere Bereitschaft. Die Aufnahme drüben ist freundlicher und offener. Die Liberalität in den liberalen Submilieus in den USA ist ausgeprägter. Wobei ich sofort zugebe, dass das für einen illegal in Florida landenden haitianischen Flüchtling völlig anders aussieht.

Umgekehrt mag ich in Europa die größere Heterogenität. Bei aller Buntheit in den USA ist die Differenz zwischen, sagen wir: Minneapolis und Atlanta geringer als die zwischen London und Rom. (ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 14./15.6.2003)