Ich seh und starr! Ein kaltes eiß
Befröstet adern, hertz und lungen!
Von beyden schläffen rinnet schweiß,
Mein leib wird auff den platz gezwungen.
Das gantze feld ist eine grufft
Und alle särge stehn entdecket;
Was vor staub, zigel, kalck verstecket,
Umgibt die allgmeine lufft.

Andreas Gryphius, Kirchhofs-Gedancken (1657)

Unscheinbar präsentiert sich die sterbliche Hülle von Josef Winklers jüngster Rückkehr ins wilde Kärnten: ein schmales Bändchen der edition-suhrkamp-Jubiläumsedition. In seinem Inneren eingefaltet hält es für den Leser Anblicke, Gerüche, Geräusche, Fantasmen und Szenen verborgen, deren schiere Fülle ihn nach dem Öffnen farbsatt umströmt, umbraust, mit irdischer Sinnlichkeit durchtränkt, mitunter überspült. Nach 150 Seiten Lektüre zugeklappt, liegt das Buch in weiß-roter Unschuld auf dem Tisch, und sein geringer Umfang lässt das Ausmaß des Geschauten nicht erahnen.

73 Prosaminiaturen versammelt der Band unter dem Titel Leichnam, seine Familie belauernd. Manche von ihnen sind nur wenige Zeilen lang, die meisten rund eine Seite. Zahlreiche der Dramatis Personae, die Winkler darin auftreten lässt, sind aus früheren Büchern vertraut. Neu ist der Ton, neu die Perspektive, aus der sich der den Blick heimkehrende Sohn dem Dorf der Kindheit nähert: Als Tod maskiert, den ihm mancher an den Hals wünscht - "Der allerschönste und allerschlimmste Ort, an dem ich mich aufhalte, ist immer noch mein Gestell, mein Knochengerüst, in dem ich hause", heißt es in den ersten Zeilen des Buchs -, durchschreitet er, umweht von eisigem Allerheiligen-Nebel, die Wege der Kindheit und holt die dörflichen Honoratioren von einst aus ihren Häusern zum klirrend munteren Totentanz.

Moro-Blutorangen-bunte, erdklumpen- und regenwurmfeuchte Partezettel reihen sich die Texte zum wilden Reigen, wenn der Toten-Trommler den Dorfpatriarchen aufspielt, nachdem er die Deckel von ihren Särgen geschraubt hat. Den Anfang macht der Lehrer, der das Kind einst mit dem Schulskelett in lodernde Angst und Schrecken versetzte: "Ein paar Jahrzehnte später zerbrachen und zerbröselten die Knochen des Lehrers, der als Marionette mit offenem Mund vom Totenbett gehoben werden mußte. Als man ihn einsargte, rollte der Ehering von seinen dünnen Fingern über den frischversiegelten Parkettboden auf den Flur der Wohnung hinaus, einer Vase mit roten Gladiolen zu Füßen."

In filmischen Einstellungen von sinnlicher Opulenz gestaltet Winkler bewegte Gemälde, formt in übermütiger Souveränität neu, was nicht länger, wie zu Beginn seines Schreibens vor über zwanzig Jahren, in der Trilogie Das wilde Kärnten, zur tödlichen Bedrohung gereicht. Es ist diese spielerische Attitüde eines ausgelassenen Auseinandernehmens und Neumontierens der Furien der Vergangenheit, die die Prosastücke, aller grauslichen Erinnerungsbilder zum Trotz, mit einer lichten Heiterkeit überglänzt. - Einer Heiterkeit, die sich gegen Ende des Buches, mit dem großartigen "Vita activa der Familie Francula in Carinzia" zur wilden Satire steigert und in den epilogischen Fragen selbstironisch ausklingt.

Vor Gott und Winklers aufmerksamen Sinnen sind alle gleich. Weshalb er vom Pfarrer die körperliche Hülle des starken Rauchers erinnert - "Der Pfarrer rauchte die schwarzen Smart Export wie mein Großvater mütterlicherseits. Beide hatten sie vom Zigarettenrauch gebräunte Zeigefinger, beide gewölbte Fingernägel" -, dessen "Zigarettenatem" ihm durch die Löcher des Gitters entgegen dringt, das im Beichtstuhl den Beichtvater vom Beichtenden trennt.

Weshalb der "Zelebrationskittel tragende Erzministrant" lange auf des Mensch gewordenen Gottessohns "goldlackierten, abbröckelnden Lendenschurz" starrt und sich "seine mit Blattgold belegten Geschlechtsteile" vorstellt - oder nach dem Verzehr des hostienförmigen Jesusleibs, einige Verdauungsstunden später, auf dem Plumpsklo "mit einem Holzstöckchen nach den sterblichen Überresten vom Leib Christi" stochert.

Dort, in den Häusern der Vorsichtigen von Kamering, ist die kreatürliche Wahrnehmung der Welt verdächtig. Josef Winkler fand die Welt zu seiner Wahrnehmung andernorts, in Indien.

Leuchtend wie ein Sonnenaufgang über dem Ganges erhebt sich aus den Texten über Kärnten, angekündigt und doch unvermutet, das 16 Seiten lange, atemberaubend dicht gewobene Panorama "Julius Meinl oder Leichenschleifen in Benares". Seine Beobachtung der Leichenverbrennungen am Ufer des Ganges beschrieb Winkler erstmals 1996 in seinem Roman Domra. Zu dessen 260 Seiten verhalten sich die wenigen des Textes in Leichnam, seine Familie belauernd ähnlich wie die restlichen Miniaturen zur frühen Trilogie Das wilde Kärnten: Sie komponieren die Motive zu Bildarrangements von höchster Verdichtung, durchgeformt, verkürzt und verknappt in einer das Lesen kunstvoll erschwerenden, Verlangsamung erzwingenden Fülle. In der Entfernung schärft sich der Blick auf die Redseligkeit der Dinge. Vom Vater zu künden übernehmen der "von kotbespritzten Glühbirnen düster beleuchtete Stall" und "tagealte, zwischen den Zähnen seiner Oberkieferprothese gelb herausleuchtende Polenta".

Darüber hinaus aber weitet sich "Julius Meinl oder Leichenschleifen in Benares" zu einer Cinemascope-Fahrt durch Feuer, Wasser, Gestank und Kot, durch Leben und verkohlende Leichen als gottloses, wild kreatürliches Panorama des irdischen Seins von einem Autor, dem biblisches Pathos und biblische Bildkraft so nahe sind wie der kleinliche katholische Katechismus fern.

Der Blick, der sich über die Dauer eines Tages und die Bestattung dreier Leichen erstreckt, die einander - Mutter, Kindsmörder, ermordetes Kind - zu einer unheiligen Familien-Trias ergänzen, hebt an mit dem blutroten Schwenk über Alltagsszenen - den Mann, der einer Schar Hühner "mehrere Fäustevoll blutige Hühnerherzen vor die Beine warf", den Knaben, der einen Eisblock in Rosenblätter bettet. Bald läuft ein Uniformierter ins Bild, den toten Kindsmörder an einem Strick hinter sich her schleifend. Auf dem Weg über die Stufen hinab zum heiligen Fluss "schlug sein Hinterkopf immer wieder hart auf die steinernen Stiegenkanten". Unbekümmert verliert der schweifende Blick den Kindsmörder allerdings bald aus den Augen, abgelenkt durch das Leben ringsum, Knaben, die Papierdrachen nachjagen, Mädchen, die sich um einen Kuhfladen raufen, den sie zum Trocknen an die Mauer der elektrischen Einäscherungsanlage klatschen. Wasserbüffel, Reiher, Geier, Hündinnen und lästige Wiener Hare-Krishna-Leute.

Den Bild-Vordergrund dominiert das Zentralmotiv der Feuerbestattung einer toten Mutter und der Wasserbestattungen von Mörder und ermordetem Kind in der Mitte des Flusses, wo sich ihre Skelette in der Tiefe verkeilen werden. Dahinter aber spannt Winkler einen gleichnishaften Bogen kreatürlichen Werdens und Vergehens, instrumentiert vom Krachen in Hitze und Flammen berstender Menschenknochen - um deren Reste sich die Hunde balgen, während ein Händler in der Asche des Bestattungsfeuers Erdnüsse röstet.

Gegen Ende des Tages, der blutrot begann, liegt über dem Fluss "ein rosaroter Schimmer. Eine Glocke läutete." Den Tag beschließt ein Bild abendlichen Friedens - für jene, die gewillt sind, den Anblick des Todes als einen Teil des Lebens gelten zu lassen: "An der Wasseroberfläche, zwischen orangefarbenen Blumengirlanden und schwimmenden Holzkohlestücken, spiegelte sich der Schatten einer nach verkohlten, menschlichen Leichenteilen suchenden Hündin."

Ein weiteres Mal weist sich Josef Winkler mit diesem Text aus als später Nachfahre eines anderen sprachtrunkenen Dichters deutscher Sprache, des Schlesiers Andreas Gryphius, der wie der Kärntner das Auge weit aufsperrte vor den verwesenden Eingeweiden des Lebens. []

Josef Winkler, Leichnam, seine Familie belauernd. €7,-/157 Seiten. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003.

HINWEIS: Am kommenden Mittwoch, dem 18. Juni, um 19.00 Uhr liest Josef Winkler gemeinsam mit Friederike Mayröcker in der Alten Schmiede in Wien, 1., Schönlaterngasse 9.