
Martin Pollack, geb. 1944, ist Autor, Übersetzer und Träger des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung 2011. Zuletzt erschienen "Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien" (Zsolnay 2010) und - zusammen mit Christoph Ransmayr - "Der Wolfsjäger. Drei polnische Duette" (S. Fischer 2011).
Standard: Herr Pollack, der belarussische Autor Alhierd Bacharewitsch spricht eine Problematik an, mit der Sie als Kurator irgendwie umgehen mussten. Ich zitiere gekürzt: "Lange Zeit nötigten die Wörter , belarussische Literatur' meinem Gesicht nervöse Verzerrungen ab, und ich musste das Gesprächsthema wechseln. Lange brachte Belarus viele Quasi-Schriftsteller und zweifelhafte Genies hervor, sodass ich bei jedem, der sich Literat nannte, große Bedenken hatte. Viele Schreibende sind Publizisten, die sich als Literaten tarnen. Sie missbrauchen die Literatur, um damit auf wichtige Themen zu reagieren. Aber: Journalismus ist eine Dienstleistung. Literatur ist Zauberei." - Können Sie diesem Befund etwas abgewinnen?
Pollack: Auf jeden Fall. Da wird etwas angesprochen, auf das man nicht oft genug hinweisen kann, nämlich, dass es ein Fehler ist, wenn wir diese Literaturen ständig auf politische Losungen abklopfen. Selbstredend entsteht jede Literatur in einem spezifischen politischen Kontext, aber die Frage, die mich letztlich interessiert, kann am Ende nur die sein, ob wir es hier mit einem literarischen oder einem politischen Text zu tun haben, und als Kurator bin ich primär an einem literarischen Text interessiert.
Standard: Der idealerweise auch ohne Kenntnis des politischen Kontextes funktioniert?
Pollack: Ja. So bedrückend die politische Situation auch sein mag, und sie ist es im Fall von Belarus tatsächlich, so sehr gilt auch hier: Literatur ist Literatur, und ein Gedicht ist ein Gedicht.
Standard: Gibt es da vielleicht vom westlichen Publikum eine bestimmte Erwartungshaltung, die von den Autoren in vorauseilendem Gehorsam eifrig bedient wird?
Pollack: Das stimmt, aber es gibt auch Autorinnen wie die belarussische Lyrikerin Valzhyna Mort, die es nicht mehr hören kann, dass sie ständig politische Statements abgeben soll. Es ist alles andere als einfach, nicht in diese Falle zu tappen, weil sich diese Autoren dem theoretisch zwar verweigern können, aber wenn sie das tun, dann wird es für sie noch einmal schwerer, im Westen wahrgenommen zu werden, als es ohnehin schon ist. Diese Dynamik finde ich alles andere als optimal.
Standard: Ist es Ihnen gelungen, in Leipzig Autorinnen und Autoren aus Belarus, Polen und der Ukraine zu präsentieren, die sich eben nicht als " politische Autoren" schubladisieren lassen?
Pollack: Zum Teil. Wir bringen zum Beispiel Andrej Chadanowitsch, der auch unpolitische Gedichte schreibt und der sich wie Valzhyna Mort dagegen verwahrt, als Ideologe oder Publizist gesehen zu werden. Es geht nicht darum, die Politik völlig auszublenden, das ist ohnehin unmöglich.
Standard: Sie sind als Übersetzer, Essayist, Schriftsteller und Journalist das Verfassen unterschiedlicher Textsorten gewohnt. Würden Sie die Grenze zwischen Dienstleistung und Zauberei auch so klar ziehen, wie Bacharewitsch es tut?
Pollack: Auf mich bezogen würde ich die Grenze nicht so klar ziehen, aber das hat damit zu tun, dass ich dokumentarische Literatur schreibe, ich bin also, sagen wir, ein Zauberer mit einem ziemlich kurzen Stab.
Standard: Aber mit einem umso längeren Atem, zumindest was Ihr jahrzehntelanges Eintreten für die osteuropäische Literatur und profunde Kenntnis derselben angeht. Hat dieser Status Sie vor Begehrlichkeiten seitens der Messeleitung bewahrt?
Pollack: Nicht ganz. Ein Wunsch war - und das hat mich überrascht - die Hineinnahme der Fußball-Europameisterschaft. Das war für mich ein völlig neues Gebiet, auf dem ich mich nicht auskenne. Ich hoffe aber, dass mit der ukrainischen Autorin Natalka Sniadanko die Präsentation des Sammelbandes Wodka für den Torwart keine sakrosankte Männerzone wird, sondern auch kritische Töne angeschlagen werden.
Standard: Und warum setzen Sie diese Hoffnung in Natalka Sniadanko?
Pollack: Sie steht in Verbindung mit einer wunderbaren ukrainischen Frauenorganisation namens Femen. Das sind Frauen, sehr attraktive Frauen, die immer barbusig auftreten und die Fußball-EM heftig kritisieren, weil sie die Befürchtung hegen, dass während der EM die Ukraine zu einem großen Bordell werden könnte.
Standard: Wozu man kein großer Prophet sein braucht.
Pollack: Stimmt. Und dass darüber auch gesprochen wird, ist mir wichtig.
Standard: Sie haben sich bislang geweigert, eine der 20 "tranzyt" -Veranstaltungen besonders hervorzuheben. Gibt es keine, die Ihnen besonders am Herzen liegt?
Pollack: Das ist jetzt eine sehr subjektive Einschätzung, aber ich habe ein Panel zum Thema "Erinnerungskriege" organisiert, und wenn das funktioniert, dann freue ich mich sehr. Es ist ein gängiges Vorurteil, dass es in diesen Ländern keine kritische Vergangenheitsbewältigung gäbe, was so nicht stimmt. Es geht um die Erinnerungskriege, in den drei Ländern selbst, aber auch um die Erinnerungskriege dieser Länder untereinander. Das Thema birgt natürlich Sprengstoff, aber so etwas gerade in Deutschland zu machen halte ich für wichtig. Wenn darüber berichtet wird, wäre schon viel gewonnen.
Standard: Sie formulieren Ihre Erwartungen häufig konjunktivisch, woraus man rückschließen könnte, dass Sie den multiplizierenden Effekt dieses Schwerpunktes nicht allzu hoch einschätzen.
Pollack: Da muss man einen gesunden Pessimismus an den Tag legen. Man darf an sich selbst nicht zu hohe Erwartungen stellen und enttäuscht sein, wenn in der Folge nicht gleich zehn Bücher aus dem Belarussischen übersetzt werden. Ich spreche so oft über Belarus, weil es in der Ukraine - nicht zuletzt dank des Glücksfalls Juri Andruchowytsch - ein wenig besser aussieht und die polnische Literatur am deutschsprachigen Markt mittlerweile etabliert ist. Nichtsdestotrotz haben wir Polen mit reingenommen, weil die dortige Literaturszene unglaublich gut mit denen der beiden anderen Staaten vernetzt ist, wodurch Polen für Belarus und die Ukraine eine wichtige Brückenfunktion nach Europa erfüllt.
Standard: Wären nicht gerade auch österreichische Verlage stärker in der Pflicht, sich osteuropäischer Literaturen anzunehmen?
Pollack: Ja, bestimmt hat man hier Chancen verschlafen. Man kann von einer gewissen Hasenherzigkeit der österreichischen Verleger sprechen. Andererseits kann man niemanden zwingen, osteuropäische Literatur zu verlegen, und dass das Geschäft mit ukrainischer oder belarussischer Literatur schwieriger ist als mit italienischer oder amerikanischer, ist klar. Trotzdem hätten österreichische Verlage die Öffnung nach Osten viel offensiver wahrnehmen können - und müssen.
Standard: Was sie warum nicht getan haben?
Pollack: Ich glaube, das hat mit einer unseligen Mischung aus Arroganz und Ignoranz zu tun.
Standard: Kommen wir vom verlegerischen Kleinmut zu den akklamierten Großtaten: Bei Rowohlt ist unlängst Peter Nadas' 1728-Seiten-Roman " Parallelgeschichten" erschienen. Gibt es aus dem Bereich der " Tranzyt-Staaten" ein ähnlich monumentales Werk, dessen Übersetzung längst überfällig wäre?
Pollack: Bestimmt. Zum Beispiel von Stanislaw Vincenz, einem nicht hoch genug einzuschätzenden polnischen Autor, den mehrbändigen Roman Auf der Hochalm - ein unglaublich wichtiges, aber aus sprachlichen Gründen extrem schwer zu übersetzendes Werk.
Standard: Würden Sie ein Übersetzungsangebot für diesen Text annehmen?
Pollack: Weiß ich nicht. Wahrscheinlich würde ich daran zehn Jahre sitzen, und ich bin ja auch nicht mehr ganz jung. Vielleicht wäre das ein schönes Alterswerk, auch wenn mir der Tod zuvorkäme und es unvollendet bliebe.
Standard: Kommen wir zuvor noch einmal zu Belarus. Bei der eingangs von Ihnen erwähnten Valzhyna Mort heißt es: "wie wir zur welt kamen wissen selbst unsere mütter nicht/(...)/wir fraßen erde und dachten das sei brot/unsere zukunft aber - diese tänzerin auf dem dünnen strich horizont" - Glauben Sie, etwas prosaisch formuliert, dass der Schwerpunkt "tranzyt" zur Identitätsfindung dieses jungen Staates beitragen kann?
Pollack: Na ja, das müssen die Autorinnen und Autoren schon selber besorgen, aber wenn es uns gelingt, dass wir, was die Heimholung der belarussischen Literatur nach Europa angeht, endlich über die Stunde null hinauskommen, haben wir viel erreicht. (Josef Bichler, Album, DER STANDARD, 10./11.2012)