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Afghanen versammeln sich vor einem Nato-Stützpunkt im Distrikt von Kandahar, um gegen die Tötung von 16 Zivilisten durch einen oder mehrere US-Soldaten zu protestieren.

Foto: EPA/MUSTAFA KHAN

War es wirklich ein durchdrehender Einzeltäter, der im Süden Afghanistans bei einem Amoklauf 16 Zivilisten tötete? Oder war es in Wahrheit ein "Kill-Team" der US-Spezialkräfte, das schlafende Kinder und Frauen massakrierte? Neue Details schürten am Montag Zweifel an der Version von Nato und der Schutztruppe Isaf, wonach das Blutbad in der Provinz Kandahar auf das Konto eines einzigen US-Soldaten ging. Wie die New York Times berichtete, handle es sich bei dem Täter um einen 38-jährigen Feldwebel aus dem US-Westküstenstaat Washington. Er sei verheiratet, habe zwei Kinder und sei erst seit Dezember in Afghanistan. Zuvor sei er dreimal im Irak stationiert gewesen.

Obama: Rasche Untersuchung

Das Blutbad am Sonntag war eines der schlimmsten dieser Art seit dem Sturz der Taliban 2001. US-Präsident Barack Obama zeigte sich in einem Telefongespräch mit seinem afghanischen Amtskollegen Hamid Karsai zutiefst bestürzt und versprach eine rasche Untersuchung des Vorfalls.

Während die Nato auf der Einzeltäter-These beharrt, widersprachen dem mehrere mutmaßliche Augenzeugen: Nachbarn und Verwandte berichteten von mehreren Soldaten. In einer Erklärung zitierte Karsai einen überlebenden 15-Jährigen: "Amerikanische Soldaten weckten meine Familie und schossen ihnen ins Gesicht."

"Das ist viel Arbeit für einen einzelnen Schützen", meinte der US-Kriegsreporter Michael Yon, in den 1980er-Jahren selbst bei den US-Spezialkräften. "Etwas an der Story ist sehr faul." So sollen die drei fraglichen Häuser in zwei Dörfern liegen, die zwei Kilometer voneinander entfernt liegen. Ihre Bewohner wollen fast zeitgleich Schüsse gehört haben, was nur möglich sein dürfte, wenn mehrere Soldaten unterwegs waren.

Die Soldaten hätten gelacht, zitiert die Nachrichtenagentur Reuters einen Nachbarn: "Sie waren alle betrunken und schossen wild um sich." Ein anderer Augenzeuge meinte: "Sie gossen Chemikalien über die Leichen und verbrannten sie." Ein Fotograf der Agentur AP berichtete Gleiches.

Sollten mehrere Soldaten geschossen haben, könnten sie einer - womöglich gezielten - Fehlinformation aufgesessen sein, dass sich in den drei Häusern Taliban versteckt hielten.

Jedenfalls kommt der jüngste Zwischenfall den USA höchst ungelegen. Seit einem Jahr ringen Washington und Afghanistan um ein Abkommen, das eine strategische Partnerschaft und eine allfällige US-Militärpräsenz in der Zeit nach dem offiziellen Abzug 2014 definieren soll. Die Gespräche sind in der Endphase. Einer der größten Streitpunkte waren dabei schon bisher die nächtlichen Razzien. Sie sind bei den Afghanen sehr gefürchtet und zutiefst verhasst, weil immer wieder Unschuldige ums Leben kommen. Die USA bestehen darauf, diese weiter durchzuführen, in Afghanistan gibt es jedoch erbitterten Widerstand: Nichts würde den Gegnern mehr in die Hände spielen als ein Nachteinsatz, der in einem Blutbad endet.

Der Schaden ist, so oder so, immens: Der Hass auf den Westen wächst, die Taliban werden gestärkt, und die internationalen Schutztruppen mutieren in den Augen vieler Afghanen zu Kinder- und Frauenmördern. Zumal auch Karsai die Version vom Amoklauf eines Einzelnen nicht stützte: "Dies waren absichtliche Morde an unschuldigen Zivilisten, die man nicht vergeben kann."

"Dies war ein fataler Schlag für die US-Militärmission in Afghanistan", meint David Cortright vom Institut für Internationale Friedensstudien. " Jeder Hauch von Glaubwürdigkeit, den wir nach den Koran-Verbrennungen vielleicht noch hatten, ist jetzt verloren."

Derweil werden die Dörfer weiter von den Wehklagen der Trauernden erfüllt. "War dies etwa ein Taliban?", ruft Gul Bushra, während sie auf die Leiche ihres zweijährigen Kindes zeigt. Und die Taliban stacheln die Wut noch an: "Die USA töten eure Frauen und Kinder. Worauf wartet ihr noch? Erhebt Euch!"

Merkel in Masar-i-Sharif

Unterdessen wies die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer im Vorfeld geheim gehaltenen Visite in Afghanistan auf Risiken hinsichtlich des geplanten Isaf-Truppenabzugs hin. Der Versöhnungsprozess mit den Taliban habe zwar Fortschritte gemacht, doch erlaube dies derzeit noch keinen Abzug. (Christine Möllhoff, DER STANDARD, 13.3.2012)