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"Lächeln Sie, das schützt Sie mehr vor der Radioaktivität als sonst etwas", sagt ein Arzt im japanischen Fernsehen.

Foto: Reuters/kim kyung-hoon

"Kernkraft ist sicherer geworden", erklärte IAEO-Chef Amano am Montag an dieser Stelle - Gegenbilder der Erinnerung an eine Gegenwart, die in den offiziösen "Lehren" aus dem Super-GAU ausgeblendet bleibt

Was in Japan seit einem Jahr vor sich geht und wie wir damit umgehen erscheint wie ein Menetekel für die Zukunft aller Menschen. Mit dem Geigerzähler zum Supermarkt, mit dem Geigerzähler ins Restaurant und wenn es regnet, nur vors Haus zu gehen, wenn es unbedingt sein muss, ist keine Fiktion, sondern für viele in Nordjapan Realität. Zur Verdeutlichung: Anfang des Jahres war die in der Luft gemessene Radioaktivität in Tokio so hoch, wie in den Tagen der Kernschmelze rund um 3/11.

Insgesamt sind 50 Prozent der japanischen Landmasse mit radioaktiven Schadstoffen belastet, nach wie vor fließt tagtäglich kontaminiertes Wasser aus dem kaputten Atomkraftwerk in den Pazifik. Kanadische und amerikanische Wissenschafter haben nachgewiesen, dass der Fisch, in diesem, unserem größten Ozean, bis in alle Winkel mit Cäsium belastet ist.

Anhebung der Grenzwerte für Lebensmittelkontaminierung

Bezeichnend für die grenzüberschreitende Strategie des Verharmlosens und Beschwichtigens: Schon im Mai letzten Jahres haben die Regierungen der Vereinigten Staaten und der EU die Grenzwerte für die Kontaminierung von Lebensmitteln angehoben. Würden die alten Werte gelten, so könnte man etwa die Milch in Kalifornien schon lange nicht mehr trinken. In Japan selbst hat die Regierung die Werte für die Bevölkerung (auch Kinder) auf ein Maß gesetzt, das über jenes hinaus geht, das man den Angestellten in europäischen Atomkraftwerken zumutet. Und diese Werte sollen in Kürze ein weiters Mal angehoben werden, um die Nahrungsversorgung sicherzustellen.

Das Teuflische ist, dass man die Gefahr nicht sieht, spürt, riecht und was in 15 bis 20 Jahren ist kann sich sowieso keiner vorstellen, man scheitert doch schon daran sich auszumalen, wie das nächste Jahr aussehen wird.

Beschäftigt man sich eingehend mit der Situation in Japan und kritisiert man die offizielle Informationspolitik, so wird man von seiner Umwelt entweder als Hysteriker oder als hoffnungsloser Esoteriker abgetan. Kaum einer will wissen, was wirklich vor sich geht, und was in den weltumgreifenden Medien nicht berichtet wird, existiert nicht. Man geht davon aus, dass man in Japan die Lage im Griff hat, dass das Schlimmste vorbei ist, dass es munter weiter gehen kann ohne gröbere Verluste.

Leukämierate gestiegen

Indes - in der Provinz Fukushima schreien die Ärzte so laut sie können, weil es ihnen an Behandlungsplätzen für Strahlenkranke fehlt, weil viele Kinder ständig an Nasenbluten leiden, weil die Leukämierate schon ein Jahr danach dramatisch gestiegen ist. Aber niemand hört sie: Die Regierung gibt die Parole aus, alles wäre sicher. Ein gedungener Strahlenarzt versichert im Fernsehen: "Lächeln Sie, das schützt Sie mehr vor der Radioaktivität als sonst etwas." Ein Regierungssprecher wird nicht müde, zu betonen: "Angst zu haben führt zu mehr Krebs, als vonseiten der Verstrahlung zu erwarten ist." Seit Monaten fährt die japanische Regierung TV-Spots, in denen Stars und Schönheiten kundtun, dass sie die Provinzen im Norden unterstützen würden, indem sie die dort hergestellten landwirtschaftliche Produkte mit großem Appetit zu sich nehmen. Dabei haben französische Wissenschafter bisher unbekannt hohe Konzentrationen von Cäsium in den Nahrungsmitteln aus der Region nachgewiesen.

Zugleich tut die Regierung ihr bestes, den "Dreck" zu verteilen, indem sie angeordnet hat, dass Abermillionen Tonnen des vom Tsunami hervorgerufenen Mülls, der größtenteils schwer kontaminiert ist, nationenweit verbrannt wird. Damit wird die Radioaktivität gleichmäßig, im alten japanischen Solidarprinzip, über das gesamte Archipel verteilt - und darüber hinaus in der gesamten nördlichen Hemisphäre. Die Yakuza, die immer zur Stelle ist, wenn die Regierung nicht mehr weiter weiß, verteilt den verseuchten Klärmüll, der kilometerlang in heuhaufengroßen Stücken, notdürftig mit Plastikfolie abgedeckt in den nördlichen Provinzen vor sich hinlagert, vom äußersten Norden bis zum südlichsten Zipfel des Archipels, wo er dann als Dünger für die Reisfelder verwendet wird. Und dazwischen kauern die Menschen, die an den Rand der Todeszone evakuiert wurden, dort wo die Radioaktivität kaum niedriger ist. Sie haben alles verloren, sie können nicht fliehen und keiner hilft ihnen - die Regierung hat sie im Stich gelassen.

Endlich Widerstand

Diese spricht ihrerseits ständig von Dekontamination - aber wie soll man wohl Landstriche so groß wie Österreich dekontaminieren? Bei einem Hearing junger hübscher Manager der Firma Tepco vor Bauern aus der Provinz Fukushima kam es unlängst fast zu Übergriffen, weil die Manager für nicht mehr landwirtschaftlich nutzbare Felder Kompensationszahlungen absagten. Mittlerweile fordert der Gouverneur der Provinz Saitama, dass die Chefs von Tepco gerichtlich zur Verantwortung gezogen werden.

Und auch in der Bevölkerung formiert sich zunehmend Widerstand: Es sind nicht nur der Nobelpreisträger Kenzaburo Oe oder der weltberühmte Musiker Ryuichi Sakamoto, die für Aufklärung kämpfen. Wie Pilze sprießen an allen Ecken und Enden des Landes Antiatomkraft-Initiativen aus dem Boden. Das Volk regt sich. Endlich. Ein Großteil der Gouverneure und Bürgermeister, die der Regierung das Verbrennen des Mülls zugesagt hatten, mussten aufgrund von Protesten bereits zurückziehen.

Außer der Stadt Tokio natürlich, denn die braucht all die Energie, die aus Fukushima kam/kommt (Tepco ist die Abkürzung für Tokyo Electric Power Corporation). Dem entsprechend war es der Gouverneur der Metropole, der jüngst sagte: "Auf Atomenergie zu verzichten ist wie sich auf das Niveau von Affen zurückzubegeben." - Deutschland wird sich freuen.

Edgar Honetschläger, geb. 1967, ist bildender Künstler und Filmemacher und lebte in den vergangenen zwanzig Jahren vorwiegend in Tokio. Seit einem Jahr recherchiert er zum Thema und erarbeitete zusammen mit Sylvia Eckermann, Yukika Kudo, Peter Scharmüller und Ken Ishimoto an einer Internet-Video-Plattform mit dem Titel 'Sound of Sirens', die Menschen weltweit dazu auffordert, in filmischer Form auf die Nuklearkatastrophe in Japan zu reagieren. (Edgar Honetschläger, DER STANDARD, 13.03.2012)