
Wojciech Lukowski betätigte sich als Schmuggler, um die Grenzbeziehung zwischen Polen und Russland zu erforschen. Heute analysiert er auch Immanuel Kants Bedeutung für ein vereintes Europa.
Robert Czepel sprach mit ihm über Putin, Kant und Schmuggelware.
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STANDARD: Die OSZE hat die jüngsten Wahlen in Russland als "unfair" bezeichnet. Inwiefern ist das Verhältnis EU-Russland von der russischen Staatsspitze abhängig?
Lukowski: Die Situation ist stabil, aber sie wird eher von Energiekonzernen wie Gazprom geprägt denn von den handelnden Personen. Ob nun Putin oder Medwedew an der Spitze steht, ist relativ unerheblich. Geld spielt die größte Rolle.
STANDARD: Warum gibt es seitens der EU relativ wenige Proteste gegen das in Medien besprochene Demokratiedefizit in Russland?
Lukowski: Die Vorsicht ist politisch bedingt. Erstens besteht in der Energiepolitik eine gegenseitige Abhängigkeit, zweitens spielt Russland auch seinen geopolitischen Einfluss aus - etwa über den Iran. Das System in Russland war immer trickreich und letztlich nicht demokratisch. Die EU reagiert darauf pragmatisch. Aber ich glaube, sie wird in Zukunft kritischer werden.
STANDARD: Hat die Person Putin Einfluss auf Ihre Arbeit als Migrationsforscher?
Lukowski: Nachdem Putins Frau aus dem Kreis Kaliningrad stammt, mit dem ich mich in meiner Forschung beschäftige, gab es schon die Hoffnung, dass sich Putin stärker für diese Exklave ausspricht. Sie hat sich nicht erfüllt: Russland ist homogen, es gibt kaum lokale Maßnahmen, alles muss von Moskau aus steuerbar sein. Vielleicht aus Angst vor separatistischen Bewegungen.
STANDARD: Sie haben am Montag am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien einen Vortrag über die "Kritik der reinen Vernunft" und den EU-Russland-Grenzraum gehalten. Was hat Kant mit der EU zu tun?
Lukowski: Sein Werk Zum ewigen Frieden gilt als Grundlage des EU-Gedankens, weil Kant darin seine Moralphilosophie auf den Frieden zwischen Staaten angewandt hat. Diese moralische Grundlage kann man aus dem Gründungsvertrag der EU herauslesen, auch wenn der Bezug zu Kant nicht immer ganz direkt ist. Es kann auch Zufall sein, aber zu Kants Zeiten begann eine gewisse Mobilität der Menschen, die aus unserer heutigen Lebenswelt nicht wegzudenken ist.
STANDARD: Wobei Kant selbst ausgesprochen sesshaft war. Er hat, so sagt man, Königsberg, also das heutige Kaliningrad, zeitlebens nie verlassen.
Lukowski: Das steht so in jeder Kant-Biografie. Allerdings hat er, wie man heute weiß, als junger Philosoph und Lehrer einige Ausflüge in die Umgebung von Königsberg gemacht. Später unternahm er nur mehr eine Reise, und zwar in ein kleines Städchen namens Goldap. Er wollte sich dort den Garten des hiesigen Garnisonchefs Oberst Lossow ansehen, in dem es viele seltene Pflanzen gab. Goldap ist heute eine kleine Grenzstadt zwischen Polen und Russland und gehört historisch betrachtet zur Region Ostpreußen. Sie hörte nach dem Zweiten Weltkrieg auf zu existieren. Die Alliierten haben sie aufgelöst - ein historisch einzigartiger Fall.
STANDARD: Sie haben in Goldap Feldforschung betrieben. Warum gerade dort?
Lukowski: Das über drei Jahrhunderte entstandene Kommunikationsnetz ging durch die Teilung der Region zwischen Russland und Polen kaputt. Vor dem Krieg war Goldap Knotenpunkt von fünf Bahnlinien, danach blieb nur mehr eine übrig. Die Stadt war völlig isoliert, die Grenze zur Region Kaliningrad blieb über vier Jahrzehnte geschlossen. Nach der Wende änderte sich das. Zu Jelzins Zeiten bestand die Hoffnung, Kaliningrad und Umgebung würden zum "Hongkong des Nordens".
STANDARD: Warum hat sich das nicht bewahrheitet?
Lukowski: Das war eine Utopie. Die Arbeitslosigkeit lag Mitte der 1990er bei 50 Prozent. Allerdings trieben die lokalen Eliten Goldaps die Entwicklung voran. Sie eröffneten 1995 einen kleinen Grenzübergang - er sollte ein "Tor nach Russland" werden. Diese Hoffnung hat sich zwar ebenfalls nicht erfüllt, aber der Übergang wurde ganz schnell zur größten Firma der Region.
STANDARD: Inwiefern?
Lukowski: Weil die Einwohner Goldaps ihr karges Einkommen durch Schmuggel - vor allem von Zigaretten - aufbesserten. Auf Polnisch heißen die Schmuggler "Ameisen". Ich habe mich in den 1990er-Jahren selbst als Schmuggler betätigt, um das Leben der "Ameisen" kennenzulernen.
STANDARD: Wie haben die Zollbehörden reagiert?
Lukowski: Es war wie ein Spiel mit klaren Regeln. Als ich mit meiner Feldforschung begann, sagte ein Schmuggler zu mir: "Wenn du kontrolliert wirst, musst du einen Dollar in den Reisepass legen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger."
STANDARD: Haben Sie die Zigaretten wieder verkauft?
Lukowski: Sagen wir so: Ich habe sie weitergegeben.
STANDARD: Mit Gewinn?
Lukowski: Manchmal mit kleinem Gewinn, um zu sehen, wie das weiterläuft. Ich musste aufpassen, nicht die Distanz zum Untersuchungsobjekt zu verlieren.
STANDARD: Was haben Sie konkret untersucht?
Lukowski: Ich wollte den Alltag und die moralischen Vorstellungen der Schmuggler verstehen. Ich wollte die Welt mit den gleichen Augen sehen wie sie.
STANDARD: Wussten die Schmuggler, dass Sie Forscher sind?
Lukowski: Nein, das war eine verdeckte teilnehmende Beobachtung. Aber es spielte keine Rolle, ich wurde sehr schnell akzeptiert. (Robert Czepel, DER STANDARD, 14.03.2012)