Es hat Warnzeichen gegeben. Signale, die niemand ernst nehmen wollte. Schon vor zwei Jahren suchte der 38-jährige Feldwebel, der am Sonntag in zwei afghanischen Dörfern ein entsetzliches Blutbad anrichtete, ärztlichen Rat, nachdem er ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten hatte.

Im Irak war der Scharfschütze am Kopf verletzt worden, offenbar als er unter die Räder eines Militärfahrzeugs geriet. In der Kaserne Lewis-McChord, seinem Heimatstützpunkt am Pazifik, ließ er sich auf ein posttraumatische Stress-Syndrom (PTSD) untersuchen. Für die Mediziner muss es nicht mehr gewesen sein als reine Routine, sie erklärten den Patienten für diensttauglich. Drei Einsätze im Zweistromland hatte der Scharfschütze bereits hinter sich, bevor er im Dezember nach Afghanistan abkommandiert wurde.

Der Mann ist verheiratet, seit 2001 bei der Armee, zu Hause warten zwei Kinder auf ihn. Seinen Namen hält das Pentagon noch unter Verschluss. Nur so viel wollte Verteidigungsminister Leon Panetta über den Fall sagen: Im Ergebnis eines Militärverfahrens sei die Todesstrafe nicht ausgeschlossen. "Krieg ist die Hölle", fügte er nachdenklich hinzu. Es sei nicht der erste Zwischenfall dieser Art, und es werde nicht der letzte sein, "in jedem Krieg hat es solche Sachen gegeben".

Gleichwohl rückt der Mordfeldzug im Distrikt Panjwai einen Befund in den Fokus, den Politiker und Generäle in Washington in aller Regel verdrängen. Nicht nur, dass es PTSD vielen Kriegsveteranen nahezu unmöglich macht, im Zivilleben erneut Fuß zu fassen. Alpträume und Flashbacks lassen sie nachts aus dem Schlaf hochschrecken. Manchmal reicht schon das Geräusch einer ruckartig geöffneten Coca-Cola-Dose, um sie in Deckung gehen zu lassen. Allein die Dauer der Einsätze - in Afghanistan sind seit über zehn Jahren GIs stationiert - zermürbt die Nerven.

Nach einer Studie der medizinischen Zentralstelle der US-Armee kommen nach der ersten Verlegung ins Kriegsgebiet etwa elf Prozent aller Soldaten mit mentalen Schäden nach Hause. Nach der dritten ist es mehr als ein Viertel.

In Lewis-McChord bei Seattle, wo Army und Air Force einen der größten Stützpunkte des Landes betreiben, rund 60.000 Militärs und Zivilangestellte, gesellt sich zur ernüchternden Diagnose der Verdacht der Schönfärberei.

Erst im Jänner wurde dort der Kommandeur des Madigan Army Medical Center vom Dienst suspendiert. Routinemäßig soll sein Team junge Männer und Frauen, die unter häufigen Alpträumen litten, zu Simulanten gestempelt haben. Seit 2007, so vorläufige Erkenntnisse, sollen Nervenkrankheiten in mindestens 300 Fällen verharmlost worden sein, damit die Armee nicht für die Behandlungskosten aufkommen musste.

Lewis-McChord ist kein Einzelfall: So schnell nach dem Amoklauf das Wort vom Skandalstützpunkt die Runde machte, so schief ist das Bild. Aus vielen Garnisonsstädten ließen sich ähnliche Geschichten erzählen, gleichwohl ist Lewis-McChord in den Fokus geraten. Dort diente der Unteroffizier Calvin Gibbs, dessen "Kill Team" im Süden Afghanistans aus reiner Mordlust tötete und neben den Leichen posierte wie Großwildjäger neben Trophäen. Ob es Verbindungen zwischen Gibbs und dem Amokschützen von Panjwai gab, dem gehen Ermittler nach. Im Moment macht das Pentagon keinen Hehl aus seiner Ratlosigkeit: Was den Täter getrieben haben könnte, sei völlig unklar. (Frank Herrmann aus Washington, DER STANDARD, 14.3.2012)