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Eine andere Realität als die der Mehrheit treibt Menschen mit psychischen Erkrankungen in die gesellschaftliche Isolation. Reintegration ist deshalb ein wichtiger Teil der Behandlung.

Wien - "Sie wollen Ihrem Gegenüber zuhören, aber irgendwie schaffen Sie das nicht, weil draußen ein Handy läutet. Es ist nicht Ihres, aber Sie denken, wer ruft mich da an, wer weiß, dass ich hier bin? Zusätzlich gluckert Wasser in den Heizungsrohren. Es stört, irritiert total. Was ist da drinnen los in diesen Heizungsrohren? Was lebt da? Sie bekommen Angst. Längst schon können Sie dem Gespräch nicht mehr folgen. Die fragenden Augen Ihres Gegenübers starren Sie an. Ein Mund sagt möglicherweise, was Sie jetzt machen müssen. Sie kapieren nichts, bekommen Panik, springen auf, laufen weg. Die Menschen verlieren den Bezug zur Realität", beendet Alexandra Stockinger von Pro Mente Wien ihren Versuch zu veranschaulichen, wie Schizophrenie sich anfühlen könnte.

Die 42-jährige Psychologin mit der schwarzen Igelfrisur kennt hunderte Menschen, deren Sinneseindrücke, Wahrnehmung und Informationsverarbeitung nicht mehr so funktionierten wie bei den meisten anderen Menschen. Das, was mit Diagnosen wie Schizophrenie, bipolare Störung oder Borderline-Syndrom bezeichnet wird, meint eine gestörte Wahrnehmung der Wirklichkeit. Sie führt zu Wahnvorstellungen und Angst und lässt Menschen nicht mehr zur Ruhe kommen. Sind diese Symptome stark genug, funktionieren Betroffene in der Gesellschaft nicht mehr. Ziehen sich zurück oder werden auffällig. "Was wir in Diagnosen zusammenfassen, hat hunderte verschiedene Erscheinungsformen", betont Stockinger.

Spitalsaufenthalt

Wer Glück hat, kommt zur Behandlung auf die Psychiatrie, zum Beispiel ins Otto-Wagner-Spital. "Du bist so zu, weißt nicht, was los ist, kriegst überhaupt nichts mit", erzählt Michael* von seinen ersten Wochen dort. Er ist Mitte 20, groß, cool, sanft und freundlich. Mit Medikamenten haben es die Psychiater dort geschafft, seine Hirnfunktionen wieder in geregelte Bahnen zu leiten. Langsam, sagt Michael, konnte er wieder denken, Kontakt aufnehmen. "Du redest mit den anderen dort, zum Beispiel auch über die Medikamente. Ob du sie verträgst, welche Nebenwirkungen sie bei dir haben, ob es Alternativen gibt", erinnert er sich. Das beeinflusste dann auch die Gespräche mit den Ärzten. Es hat allerdings viele Monate gedauert, bis er " stabilisiert und gut eingestellt" war.

Medikamente gegen die Angst, gegen das Stimmenhören, Medikamente, um abends einschlafen zu können: Sie bringen Menschen mit psychischen Erkrankungen erst einmal Erleichterung. "Nur ein Drittel aller Fälle wird langfristig chronisch", weiß Stockinger von Pro Mente Wien, Leiterin des Projekts betreutes Wohnen. Die vom Fonds Soziales Wien finanzierten Programme wollen Menschen nach psychischen Krisen den Weg zurück in die Gesellschaft ebnen. Dafür haben Stockinger und ihr Team unterschiedliche Formen geschaffen und in den letzten elf Jahren insgesamt 130 Wohnplätze mit jeweils unterschiedlicher Betreuungsintensität aufgebaut. Die Wohngemeinschaften von Pro Mente sind in ganz Wien verteilt. In ganz normalen Wohngegenden. "Es soll ein normales Umfeld für unsere Klienten sein, kein Ausgrenzen", sagt Stockinger. Psychisch Kranke werden von Pro Mente als Klienten und Klientinnen bezeichnet. Sie sollen mit ihren Handicaps leben lernen, das ist das Ziel.

Menschen in akuten psychischen Krisen brauchen Hilfe rund um die Uhr, denn "Selbstmordgedanken sind für viele ein ständiger Begleiter", sagt Stockinger. 24-Stunden-Betreuung ist allerdings nur im Spital möglich.

Das Ü-Haus

Nach der Stabilisierung kann das 2010 gegründete Übergangshaus von Pro Mente eine Option sein. Hier im fünften Bezirk sollen Menschen nach schweren Krisen wieder zurück in die Normalität finden. Psychologen, Sozialarbeiter und Pfleger helfen dabei. Sie stehen den 17 Bewohnern, die auf insgesamt drei Etagen wohnen, von acht bis 20 Uhr als Unterstützung zur Verfügung. Am Anfang geht es darum, wieder eine Tagesstruktur zu entwickeln. Das heißt: aufstehen, sich waschen. Die Morgenbesprechung ist verpflichtend und findet um neun Uhr vormittags statt. Wer nicht kommt, wird geweckt.

Die Medikamenteneinnahme wird begleitet, Arzt- und Amtswege besprochen. Wenn sich die Situation stabilisiert, werden auch Ziele vereinbart. Etwa Einkaufen, Kochen und Putzen: An den Wänden im Ü-Haus hängen Dienstpläne. "Unsere Bewohner sind scheu, verstecken sich vor Fremden", warnt Psychologe Thomas Hoch vor einem Rundgang. Und genau so ist es. Küchen und Aufenthaltsräume sind leer. Im zweiten Stock ist die Küche dreckig, Aschenbecher quellen über. Es stinkt. "Das muss man manchmal aushalten", sagt Stockinger, denn auch Schmutz kann eine Motivation sein, um Ordnung machen zu wollen. Und Ordnung machen ist ein Baustein, um wieder selbständig leben zu können. Maximal 18 Monate dürfen Bewohner im Ü-Haus bleiben.

In der Frauen-Etage ist es gemütlicher. Eine Frau mit blonden Haaren und dunklen Augenringen huscht aus dem Bad, nimmt ihre Handtasche und verschwindet. Reden will sie nicht. Auch nicht der Mann undefinierten Alters, der lernen will, ohne seine Mutter zurechtzukommen. Er hat sich selbst hier angemeldet, hockt im Hof und raucht. "Wir sind gewohnt, sehr geduldig zu sein, freuen uns auch über ganz kleine Erfolge", sagt Hoch. Einer der Bewohner schafft es seit einer Woche, ein paar Stunden am Tag als Hilfskraft in einem kleinen Betrieb zu arbeiten.

"Die Erkrankung ist ja immer nur ein Teil des Menschen, vieles ist trotzdem noch intakt", erzählt Psychologe Hoch. Er sucht bei all seinen Klienten nach Fähigkeiten, sieht über Defizite hinweg. Rückschläge sind dabei an der Tagesordnung. Böse ist im Ü-Haus aber keiner, wenn einer der Klienten etwas nicht schafft, was vereinbart war. Man probiert es wieder. Hochs Kollegin Monika Haas stellt klar: "Stabilität gibt es bei unseren Klienten anfangs nur sehr selten, dafür abwechselnde Phasen von Hochs und Tiefs." Die Schulung der Selbstwahrnehmung sei deshalb eine wichtig Aufgabe für jeden hier. Stockinger konkretisiert, was das heißen kann: Eine Pro-Mente-Klientin mit bipolarer Störung habe zu spüren gelernt, wenn eine manische Phase beginnt. Um nicht schlaflos im Nachthemd durch Wien zu irren, habe sie gelernt, sich freiwillig ins Spital einweisen zu lassen, um diese Phase dort vorübergehen zu lassen.

Teilbetreute WGs

Pro Mente will für seine Klienten eine Anlaufstelle für Krisen aller Art sein. Als Institution schafft man ein Netz aus Ärzten, Psychologen, Sozialarbeitern. Im Idealfall können Krisen immer wieder abgefedert werden. Für einen der Bewohner im Ü-Haus werden die 18 Monate demnächst vorüber sein. Er wird in eine teilbetreute Wohngemeinschaft wechseln. Lassen sich psychische Erkrankungen eigentlich wieder vollständig heilen? "Ja, wenn im Frühstadium der Erkrankung relativ rasch behandelt und die Therapie nicht unterbrochen wird", sagt der Psychiater Georg Psota. Pro-Mente-Mitarbeiter unterstützen psychisch Kranke, diese Vision nicht aus den Augen zu verlieren.

Auch in der Wohngemeinschaft im vierten Bezirk, in der Michael untergekommen ist, sind die Medikamenteneinnahme und die regelmäßigen Arztbesuche Fixpunkte in der Tagesordnung. Immer dienstags um 16 Uhr ist Lagebesprechung mit den Betreuern. Keinem der vier jungen Erwachsenen auf der schwarzen Ledercouch sieht man ihr Handicap an. Anna ist schüchtern, hat im April eine Berufsorientierung vor sich. Katharina ist eben eingezogen, muss sich erst einleben und wirkt etwas müde. "Mein Hauptproblem ist das Rausgehen. Das schaffe ich nur schwer", kann Michael sein Problem klar benennen, "gut zureden nutzt bei mir gar nichts", sagt er. Seit Juli 2011 wohnt er in der WG, letztes Wochenende war er zum ersten Mal draußen. Das wird als Erfolg gefeiert.

Seine Abende verbringt er aber meist mit den anderen beim Fernseher. Sein WG-Kollege Thomas sagt: "Die haben uns hier gut zusammengewürfelt, wir verstehen uns." Als Thomas akut krank war, stellte er jeglichen Kontakt zur Außenwelt ein, verschanzte sich, zahlte die Miete nicht und ignorierte die Post. Er verwahrloste. "Viele psychisch Kranke werden delogiert und enden als Obdachlose", erklärt Stockinger später. Sie ist stolz, dass Thomas täglich die Tagesklinik im Otto-Wagner-Spital nutzte, mit Psychotherapie und Betreuung wieder fit wurde. Im Café Komm24 lernen psychisch Kranke wieder, was Arbeiten heißt. Thomas sucht einen Job, will Geld verdienen. " Ich bin froh, dass Sie keinen Fotoapparat dabei haben", sagt er. Niemand will, dass Außenstehende von ihrer Krankheit erfahren. "Unsere Seele kann man nicht fotografieren", bestätigt Michael. Die Wohnung sehen alle hier als eine Art Refugium, einen Ort, an dem sie Zeit haben, wieder fit für die Welt zu werden. Vielleicht einmal sogar wieder alleine wohnen zu können, zuerst noch mit Unterstützung und dann vielleicht nur mit einer Notfallnummer - für beide Formen hat Pro Mente die maßgeschneiderte Lösung zurück in die Selbständigkeit.

Vollbetreut leben

In der Wohngemeinschaft zwei Straßen weiter ist das nicht das Ziel. "Wir strukturieren den Wohnheimtag rund um die Mahlzeiten", sagt WG-Leiter Martin Fischer, individuelle Betreuung stehe im Vordergrund. Eine korpulente 40-Jährige, die sich als Frau Berger vorstellt und wie ein großes Kind wirkt, kocht gerne. Sie hat Diabetes, immer Hunger, darf nicht zu viel essen. Das quält ihre Gedanken. Wenn sie von der Küche in ihrem Zimmer eine Zigarette holt, sperrt sie ihre Zimmertür sorgfältig auf und zu. Seit vielen Jahren wohnt sie mit Frau Ernst zusammen. Die beiden siezen sich. "Sie haben heute aber fettige Haare, Frau Ernst." "Immer sind S' so schiach, Frau Berger, und meckern herum", kontert die 70-Jährige, steht dann aber auf und hält den Kopf in der Küche unter die Wasserleitung.

Dann erscheint der jüngste WG-Bewohner, barfuß, scheu, redet dann aber gerne vom Gitarrespielen. "Schön spielt er", lobt Frau Ernst, die niemals das Haus verlässt. Frau Berger unterbricht unvermittelt. "Wenn es finster wird, hör' ich schiache Stimmen, ich weiß, sie sind nur in meinem Kopf, aber trotzdem fürcht' ich mich." Plötzlich ruft sie "Ist da ein Luftangriff?", weil durchs offene Fenster der Lärm eines Flugzeugs zu hören ist. "Unsere Klienten sind beeinträchtigt, aber niemals tätlich aggressiv, wie das so viele glauben" , sagt Fischer. "Psychische Erkrankungen machen ja nur dann Angst, wenn man sie nicht begreifen will", bestätigt Stockinger. (Karin Pollack, DER STANDARD, 15.3.2010)