Internet-Zeitungen versus Printmedien. Der Kampf verschärft sich. Die einen wollen die Zukunft gewonnen haben. Die anderen lassen sich nicht in die Vergangenheit drängen.
Entstanden ist dieser sozialdarwinistische Konflikt, weil die Printmedien sich ihre Konkurrenz selbst erschaffen haben. Sie wollten ihre Inhalte nicht nur gedruckt vermitteln, sondern auch via worldwide web. Der Golem aber erhob sich und begann, getrieben von der Jugendlichkeit der neuen MacherInnen, eigenen Content zu produzieren und das Gedruckte unter Druck zu setzen. Nicht die elektronischen Geschwister standen plötzlich im Focus der neuen Töchter und Söhne, sondern die Eltern selbst.
Doch was steckt hinter dem Faszinosum "Zeitung"? Ihr Geheimnis ist das gedruckte Festhalten der Zeit. Freilich nicht eines Zeitpunktes, sondern eines Zeitraums, der möglichst knapp hinter jener Zeit liegt, zu der ich eine Zeitung kaufe oder zugestellt bekomme. Die Internet-Zeitung wirbt mit dem Begriff "Echtzeit" und meint damit Null-Verzögerung. Wenn etwas passiert, weiß ichs auch schon. Die Schnelligkeit der Online-Zeitung ist gleich hoch wie die des Fernsehens oder des Rundfunks.
Wenn wir den Wert der Zeitung mit Schnelligkeit definieren, dann haben die „neuen Medien" längst gesiegt, dann hat im Grunde der Rundfunk, bei seinem Aufkommen in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, bereits die Nase vorn gehabt.
Der Faktor Zeit freilich hat schon im 19. Jahrhundert mit dem Siegeszug der Dampfmaschine und der industriellen Produktion eine völlig neue Dimension bekommen. Zum ersten Mal in der Geschichte musste alles ganz schnell gehen. Technische Innovationen sorgten immer schon für große Vorteile – vor allem im Kriegshandwerk. Aber zusammen mit der Beschleunigung ergab das jenen Ruck, der die Macht des modernen Kapitalismus begründete.
Wenn man das Kommunistische Manifest heute liest, erscheint es einem fast wie eine Grüne Bibel in seiner Verdammung der unmenschlichen Konsequenzen der industriellen Revolution. Dass sich im Zuge der Finanzkrise Publizisten wie Frank Schirrmacher plötzlich vor Marx und Engels verneigten, war und ist nicht so sehr eine Rehabilitierung der Linken, sondern die Entdeckung des Konservativen.
"Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht – durch eine Unterjochung der Naturkräfte, die Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau. Schiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen..."
Der deutsche Philosoph Rüdiger Safranski zitierte diese und andere Passagen aus dem Manifest von 1848 um die damals neue „Beschleunigungsdynamik" zu illustrieren – mit dem zentralen Marx'schen Satz: Alle Ökonomie sei letztlich zur Zeitökonomie geworden. Die Steigerung der Prduktivität und der schnelle Wechsel der Produkte schaffe die entscheidenden Wettbewerbsvorteile. Die Lebenszeit der Produkte verkürze sich laufend.
"Rasender Stillstand"
Konsequent weitergedacht hat die „Nachricht in Echtzeit" überhaupt keine Lebenszeit mehr, weil sie sekundenschnell durch Neues ersetzt werden kann. Das ist „rasender Stillstand" (Paul Virilio). Warum soll die Fortsetzung der Produktions- und Beschleunigungsprozesse des 19. Jahrhunderts (siehe die Automobilindustrie) die Probleme des 21. Jahrhunderts lösen?
Sie werden durch das Internet natürlich nicht gelöst, sondern in immer vielfältigerer Weise begleitet. 48 Jahre nach dem Rundfunkvolksbegehren in Österreich, das für einige Jahre einen weitgehend unabhängigen ORF geschaffen hat, ist via Facebook und Youtube durch die ORF-RedakteurInnen eine Protestwelle mit Hilfe von 350.000 Zugriffen in Szene gesetzt worden und erfolgreich gewesen. Das hat die Spitzenpolitik kalt erwischt und erinnert entfernt an die Facebook-Einsätze im arabischen Frühling.
Im Entstehen ist eine neue mediale Kultur, an der die Printmedien teilhaben. Indem sie im Internet seit 1994 titelidentische Websites installiert haben, scheint deren Aufstieg die These zu belegen, dass die neuen Söhne und Töchter ihre alten Väter und Mütter fressen. Der Nachwuchs tut so, als wäre er ohne den Content der Eltern groß geworden. Tatsache ist: Der Content war und ist eine Voraussetzung und laufende Bedingung ihres Aufstiegs.
Die Verantwortlichen der Printmedien müssen nur darauf bestehen (solange ihr Inseratenaufkommen noch größer ist als das der Internet-Zeitungen), die elektronischen Möglichkeiten voll nützen zu können. Das heißt bei einer Politik-Debatte:
1. Begleitung mit Livestream
2. Bericht zuerst auf Internet und dann im Printmedium
3. Video-Zugriff noch eine Woche lang.
Mediale Struktur mit vielen Parallelwelten
Auf diese Weise entstünde (und entsteht bereits) eine veränderte mediale Struktur mit vielen Parallelwelten und Verknüpfungen untereinander. Verlage, die das am besten zu nützen wissen, werden auch ihre Print-Qualitäten halten können. Denn selbst für die neuen Medien gilt, Quote ist nicht alles. Die Qualität von Texten und Sendungen hebt die Glaubwürdigkeit eines Mediums und damit auch die darin geschaltete Werbung.
Die geschilderte Medienstruktur würde und wird jedoch auf Kosten der Papier-Zeitung gehen. Ihre Konsumation wird durch das iPad erleichtert, weil dort auch die anderen geschilderten Begleitvarianten abrufbar sind. Erst recht wenn das iPad irgendwann einmal aus einem Material hergestellt werden kann, das für die Rocktasche faltbar ist und für den Damen-Rucksack unverwüstlich.
In "Journalism Lab" schrieb Anfang Jänner Ken Doctor (Autor von "Newsonomics"): "Das große Match aber wird sein, ob es gelingt, jene Leser, die den Internet-Zugang bisher kostenlos bekamen, in Bezahl-Konsumenten zu verwandeln". Nach dem Wall Street Journal und anderen probiert es seit einem Jahr Auch die New York Times. Allein, sie spricht zwar von Erfolgen, publiziert aber keine genauen Zahlen.
Solange nicht klar ist, ob Internet-Zeitungen auch ohne den Qualitätscontent der gedruckten wirtschaftlich überleben können, werden sie sich nicht zu prägenden Leitmedien entwickeln. Denn nur wenn das und ein entsprechendes Salär für prominente Journalisten gesichert ist, verlassen einflussreiche Autoren die Printmedien und heuern bei Web-Zeitungen an. Das ist aber nicht der Fall. Gebloggt indessen wird vornehmlich von Leuten, die nach dem Ende ihrer Printkarrieren keinen Beraterjob bekommen oder annehmen wollen und von Redakteuren, denen in der Nacht langweilig ist. Beides ist keine gute Fundierung für nachhaltigen Qualitätsjournalismus.
Was heißt das für die Print-Gazetten? Der "Urfaust", die gedruckte Tageszeitung, bekommt in diesem Kontext eine alternative Chance, die FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher am 17. Juli 2011 in der "FAZ am Sonntag" so beschrieben hat: „Es könnte sein, dass Zeitungen und Zeitschriften und die seriösen Nachrichtensendungen eine ganz andere Zukunft haben. Sie wären die letzten verbliebenen Kommunikationsmittel, die in einer elektronischen Welt die Zeit biologisch organisieren: gleichsam mit Aufgang und Untergang der Sonne. .... Der Markt für diese Exklusivität von Zeit wird wachsen, nicht schrumpfen, wenn die Zeit der Narkose vorbei ist."
Wenn man diese Argumentation umdreht, könnte man behaupten. Mit dem Sieg der Internet-Zeitung über die gedruckte wäre auch der Sinn für Zeit verdrängt. Da sie von vielen ohnehin nur noch auf dem Handy abgelesen wird und die Uhr selbst zum Schmuckstück mutiert (vom Billigen bis zum ganz teuren), kommt den Menschen deren biologische Einbettung abhanden, er geht kosmisch Schritt für Schritt verloren. Schirrmacher: "Nicht die Zeit organisiert die Informationen, die Informationen organisieren die Zeit."
Und wenn sich in den Online-Medien eine Finanzierung ohne Bezahlsystem (also nur durch Inserate) durchsetzen sollte, wäre es recht bald um Unabhängigkeit und Qualität geschehen. Der wirtschaftliche Druck wäre zu groß, um auf dem Markt den kommerziellen Interessen auszuweichen. Ein Demokratie-Verlust wäre unausweichlich. (Gerfried Sperl, Phoenix, 15.3.2012)