"Die Neulerchenfelder Straße ist eine gute Location für ein Geschäft dieser Art, da der Brunnenmarkt in der Nähe ist, auf dem die meisten Afrikaner in Wien Fleisch kaufen", sagt die 25-jährige Victoria, die derzeit in der Heritage Boutique aushilft.

Foto: derStandard.at/Eva Zelechowski

Wer den 16. Wiener Gemeindebezirk Ottakring ein bisschen kennt, weiß, dass die Neulerchenfelder Straße kaum außergewöhnliche Shoppingschmankerln bereithält. Mit der Tramlinie 2 kommt man aus der Josefstädter Straße über den Gürtel am charmanten Gürtellokal Concerto und dem altehrwürdigen Weinhaus Sittl vorbei direkt in den Tumult des Brunnenmarkt- und Yppenplatz-Grätzels mit neuerdings boboesken Zügen. Nichts, was man als OTKler (OTK wie Ottakring) nicht schon kennt: türkische Restaurants, Marktstände, Cafés und Beisln.

Geeignete Location

Seit kurzem bietet die Neulerchenfelder Straße allerdings ein kleines Novum: Mit der Heritage Boutique hat im November vergangenen Jahres das erste afrikanische Stoffgeschäft in Wien eröffnet. Meistens steht Victoria, die Tochter der Besitzerin, im Geschäft. "Es ist eine gute Location für ein Geschäft dieser Art, da der Brunnenmarkt in der Nähe ist, auf dem die meisten Afrikaner in Wien Fleisch kaufen", sagt die 25-Jährige, die mit ihrer Familie im 22. Wiener Gemeindebezirk wohnt.

Frisches Fleisch versus "gestopfte" Hendln

Trotz der mehr als einstündigen Anreise aus Donaustadt kauft auch Victorias Familie schon seit Jahren ihr Fleisch ausschließlich am Brunnenmarkt. Ob aufgrund der Tradition, des Preises oder der Frische, weiß sie nicht mehr genau, "wahrscheinlich macht's die Kombination", sagt sie. "Während das Fleisch auf dem Markt frisch vom Bauernhof kommt, ständig nachgeliefert wird und nicht über Nacht liegen bleibt", meint Victoria, "werden die Hendln im Supermarkt mit Wasser 'gestopft', damit sie gut aussehen." Und, fügt sie hinzu, es basiere auch viel auf Vertrauen: "Weil's jeder hier kauft, kauft's auch jeder hier."

Lang gehegter Traum

Seit über 15 Jahren träumte ihre Mutter vom eigenen Geschäft. Als der Standort Ende 2011 frei wurde, schlug sie sofort zu. Für die Eröffnung hätten sie einen besseren Zeitpunkt wählen sollen, sagt Victoria. Da hauptsächlich Stoffe verkauft werden, die im Sommer und auf Feiern getragen werden, ist das Geschäft noch nicht so richtig in Schwung gekommen. Zwischen Oktober und April würden nämlich auch die Partys Winterschlaf halten.

"Anfangs war das Interesse groß, immer wieder kamen Leute, um sich umzusehen. Das ist jetzt abgeflaut. Wir warten mal auf warmes Wetter", meint die 25-Jährige. Ausschließlich als Ausgehgarderobe seien die Stoffe in der Heritage Boutique allerdings nicht bestimmt. Für dieses "Schicksal" ist eher Wien verantwortlich. Während zum Beispiel in London eine Frau im afrikanischen Gewand keine Blicke mehr auf sich zieht, "wird in Wien schon noch komisch geschaut", erzählt die junge Frau, die drei Jahre in London studiert hat und anschließend den Entschluss gefasst hat, wieder nach Wien zurückzukehren. In England fielen die bunten Gewänder auch im beruflichen Umfeld nicht mehr auf. In Wien hingegen zieht eine afrikanische Frau in bunter Kleidung, noch dazu im Winter, viel Aufmerksamkeit auf sich.

Art des Stoffes bestimmt seine Verarbeitung

Passend zum Outfit bietet die Boutique auch Schuhe und Taschen sowie handgemachten Schmuck. Hunderte solcher Outfits, erzählt Victoria, habe ihre Mutter zuhause, was aber bei älteren Frauen keine Seltenheit sei. Einige der maßgefertigten Kleider habe sie seit 30 Jahren, da die Stoffe eine hohe Qualität haben. Im Sortiment haben sie nur zwei Stoff-Arten: Lace (Spitze) und Ankara, der edlere der beiden Stoffe. Die Art des Gewebes bestimmt die Verarbeitung, ob figurbetont oder in Wickeltechnik, sodass die Kleider auch nach Veränderungen der Figur getragen werden können.

Der Rolls-Royce unter den Stoffen

Die Stoffe für 25 Euro pro etwa fünf Meter werden in London gekauft, alle anderen lässt sich die Geschäftsfrau aus der Schweiz und Vorarlberg liefern. Die Vorarlberger Stoffe zählen zu den besten weltweit. Dafür fliegen Unternehmer aus Westafrika, wo der Stoffhandel eine große Rolle spielt, nach Vorarlberg. "Der Rolls-Royce unter den Stoffen wird von der niederländischen Marke Vlisco hergestellt", erklärt Victoria.

Eine westösterreichische Spezialität

Vor allem die Ostschweizer und Vorarlberger Grenzstädte haben sich auf die Produktion und den Handel der bunten Stoffe spezialisiert. Da werden Kunden schon mal mit Gratistaxis in umliegende Städte zu Geschäftspartnern über die Grenze gefahren. "Lustenau in Österreich und St. Margareten in der Schweiz", nennt Victoria zwei prominente Standorte und holt einen Karton mit Visitenkarten hervor, von denen ihre Mutter "Tausende" hat.

Victoria ist, wie auch ihre vier Geschwister, in Wien geboren. Ihr Vater kam vor 40 Jahren nach Österreich. Der damals 24-jährige Jurist bekam eine Stelle in der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) in der Vienna International City, seit Sommer letzten Jahres ist er in Pension. Victorias Mutter, die seit gut 19 Jahren in einer afrikanischen Kirche in Wien als evangelische Priesterin tätig ist, folgte ihrem Mann drei Jahre später nach Österreich.

Rückkehr nach Nigeria

Mindestens zweimal im Jahr fliegen die Eltern nach Nigeria, um Verwandte und Freunde zu besuchen. Während sich der Vater eine Rückkehr nicht vorstellen kann, sehnt sich seine Frau sehr nach dem Heimatland, was Victoria auf die unterschiedlichen Pesönlichkeiten ihrer Eltern zurückführt.

Der Vater mag es eher ruhig, die extrovertierte Mutter sucht Gesellschaft und trifft sich gerne mit anderen Frauen zum gemeinsamen Kochen. "Mein Vater sagt immer, es ist so viel passiert in den letzten Jahrzehnten, alles ist anders als in seiner Erinnerung. Er würde sich derzeit auch nicht sicher in Nigeria fühlen", erzählt die Wahlwienerin.

Eine ihrer Schwestern, die selbst ein Geschäft in Nigeria betreibt, fliegt auch zweimal jährlich nach Afrika. Victoria sagt, sie komme eher nach ihrem Vater, sie fühle sich in Österreich wohler. Deshalb auch die "Flucht" aus dem für sie zu lauten und lebhaften London.

Projekt gegen Menschenhandel

Der pensionierte Vater hat das Projekt "City of Light" ins Leben gerufen, mit dem er sich gegen die "moderne Sklaverei in Nigeria" engagiert. Das Ziel der Initiatoren ist es, der hohen Arbeitslosigkeit in meist dörflichen Gegenden mit Ausbildung beispielsweise im Computerbereich gegenzusteuern sowie Opfer von Menschenhandel zu unterstützen. Auch Victorias Mutter arbeitet in Wien in einem christlichen Verein und im europäischen Netzwerk gegen Menschenhandel.

In ihrer Funktion als Priesterin in der freien christlichen Gemeinde ist die vierfache Mutter auch mit Prostituierten und Opfern von Menschenhandel in Kontakt gekommen. So ist die Idee zum Projekt entstanden, an dem auch Victoria mitwirkt.

Keine Querelen beim Studieren in London

Auf die Frage, warum sie sich in Wien wohler fühlt als in London, antwortet sie: "Wenn ich ehrlich bin, wurde ich quasi gezwungen, nach England zu gehen, weil man dort fix nur drei Jahre studiert. Die ganzen Querelen mit limitierten Kursplätzen gibt es dort nicht." Die junge Frau mit Abschluss in Internationaler Entwicklung und Politikwissenschaft ist jetzt auf Jobsuche. "Aber ich bin optimistisch, bald eine Stelle in der Branche zu finden", sagt sie lächelnd.

Österreichische Kunden setzen auf Gelb-Blau

Die Kundschaft der Heritage Boutique ist hauptsächlich afrikanisch, meint Victoria. Bis auf eine Ausnahme. "Dieser Stoff wird sehr gerne von Österreichern gekauft", sagt sie und zeigt auf einen gelb-blauen Stoff, der prominent in der Auslage aufgespannt hängt. "Jeder österreichische Kunde, der bei uns etwas gekauft hat, hat sich für dieses Muster entschieden." Daraus werden dann entweder Polsterüberzüge oder Vorhänge genäht. Die meisten erzählen ihr dann, dass sie den Stoff bei Freunden gesehen hätten oder er sie beim Vorbeigehen an der Auslage sofort angesprochen habe. (Eva Zelechowski, daStandard.at, 15.3.2012)