Bild nicht mehr verfügbar.

„Keine Schmerzen empfinden zu können ist daher kein Segen, sondern im Gegenteil ein großer Nachteil für unsere Gesundheit".

Wien - „Schmerzen sind Fluch und Segen zugleich", sagt Jürgen Sandkühler, Leiter der Abteilung für Neurophysiologie am Zentrum für Hirnforschung der MedUni Wien anlässlich der internationalen „Brain Awareness Week", der Woche des Gehirns. Schmerz hat zum einen eine wichtige Schutzfunktion für den Menschen. Andererseits gibt es Schmerzen, die keinen „biologischen Sinn" mehr haben. Dann wird der Schmerz zur Schmerzkrankheit - und kann jegliche Lebensqualität zerstören. Sandkühler: „Schmerz ist also nicht gleich Schmerz."

Wie entstehen eigentlich Schmerzen? Spezielle Sinnefühler für Schmerz reagieren auf starke, potenziell Gewebe schädigende, schmerzhafte Reize. Die Erregungen werden über Nervenbahnen an das Rückenmark weitergeleitet. Dort findet bereits eine umfassende Verarbeitung der Schmerzinformation statt. Die Erregungen werden verstärkt oder unterdrückt. Hier wirken auch die stärksten Schmerzmittel die es gibt, die Opioide, morphinähnliche Substanzen. Vom Rückenmark werden die Erregungen an das Gehirn weitergeleitet, wo erst der unangenehme Sinneseindruck „Schmerz" entsteht.. Sandkühler: „Schmerz muss so unangenehm sein, damit wir Schmerzsituationen und damit Risiken für unsere Gesundheit vermeiden". Dazu müssen jedoch alle an der Schmerzentstehung beteiligten Nervenbahnen, Überträgerstoffe, Bindungsstellen und Ionenkanäle einwandfrei funktionieren.

Menschen ohne Schmerzen

„Genau das ist jedoch zum Beispiel bei einer Familie in Pakistan nicht der Fall. Viele Mitglieder dieser Familie können keine Schmerzen empfinden, weil ein Gendefekt dazu führt, dass ein essentieller Ionenkanal nicht gebildet wird" so Sandkühler. Daher merken etwa die betroffenen Kinder nicht, wenn sie sich etwas gebrochen haben, Entzündungen werden nicht beachtet und können daher nicht ausheilen, und so weiter. Die Lebenserwartung der Menschen ohne Schmerzempfinden ist deutlich verringert. Sandkühler: „Keine Schmerzen empfinden zu können ist daher kein Segen, sondern im Gegenteil ein großer Nachteil für unsere Gesundheit"

Das Schmerzsystem ist ein Sinnesorgan wie Hören, Sehen, oder Riechen. Die Sinnesfühler erregen Nervenfasern bis hinauf ins Gehirn, wo die Sinneseindrücke entstehen. Sandkühler: „Ist dieser Prozess gestört, empfindet man keinen Schmerz. Wenn der Informationsfluss vom Ohr zum Gehirn gestört ist, kann dies in ähnlicher Weise zur Taubheit führen."

Das ist die eine Seite. Die andere Seite zeigt, dass Schmerz auch ohne jeglichen Sinn für den betroffenen Menschen sein kann. „Schmerz wird dann zur Erkrankung, wenn er nicht mehr als Warnsignal oder Symptom dient. Wenn der Mensch an seinen Schmerzen leidet, ohne dass dies in irgendeiner Weise nützt, dann nennen wir diesen sinnlosen, chronischen Schmerz auch Schmerzkrankheit", erklärt Sandkühler.

Schmerzen ernst nehmen

In Österreich gibt es laut Hans-Georg Kress, Vorstand der Klinischen Abteilung für Spezielle Anästhesie und Schmerztherapie der MedUni, rund 1,6 Millionen chronisch Schmerzkranke, das sind rund 20 Prozent. An der Schmerzambulanz am Wiener AKH werden rund 4.500 Betroffene behandelt.

Sandkühler rät generell dazu, Schmerzen immer ernst zu nehmen. „Man kann viele Dinge tun, um chronische Schmerzen zu vermeiden. Oft ist es nur eine Kleinigkeit, eine falsche Brille, oder man sitzt im Büro ergonomisch falsch. Häufige vermeidbare Schmerzursachen sind der Bewegungsmangel der etwa zum Rückenschmerz führt oder das Übergewicht, das Gelenkschmerzen verursacht. Besteht der Schmerz über mehrere Tage, sollte man zum Arzt gehen. Bei chronischen Schmerzen helfen spezialisierte Einrichtungen wie die Schmerzambulanzen."

Als SchmerzpatientIn gilt man, wenn man drei Monate lang Schmerzen hat. Die Erkrankung kann unterschiedlichste Ursachen, Mechanismen und Formen haben. Sandkühler: „Es gibt nicht die ‚eine‘ Schmerzkrankheit und auch keine magische Pille, die dagegen wirkt. Aber mit einem erfahrenen Therapeuten gibt es die größten Erfolgsaussichten." Grundsätzlich, so Sandkühler, ist die Schmerzkrankheit kein unvermeidliches Schicksal mehr, auch wenn eine vollständige Symptomfreiheit nicht immer erreicht werden kann: „Niemand sollte heutzutage einem sinnlosen Schmerz hilflos ausgeliefert sein." (red, 16.3.2012)