Bild nicht mehr verfügbar.

2013 laufen die Tamiflu-Kapseln in den Krisenlagern ab. Was mit dem Millionenvorrat geschieht, ist ungewiss.

Foto: APA/Michael Probst

Auch Wundermittel haben ein Ablaufdatum. Der Vorrat an Tamiflu, 2005 und 2006 gegen das H5N1-Virus in rauen Mengen angekauft, um die Österreicher vor der Vogelgrippe zu schützen, wird überständig. In Militär- und zivilen Lagern werden 1.122.302 Packungen fertiger Kapseln und reiner Wirkstoff (Oseltamivir), der für die Herstellung weiterer 3.178.438 Packungen reicht, in Fässern gebunkert. Die antiviralen Kapseln liefen bereits 2011 ab, wurden aber 2009, als man eine Schweinegrippe-Pandemie befürchtete, von der europäischen Arzneimittelbehörde EMA um zwei Jahre verlängert.

In der Schweiz hat die Entsorgung des Roche-Produkts bereits begonnen. In Genf wurde der Vorrat schon letztes Jahr verbrannt, im Kanton Zürich wird man im Sommer die ersten Packungen in die Müllverbrennung bringen.

2012, 2013, 2014 oder erst 2016? Fragt man in den Landes- sanitätsdirektionen nach, wie lange ihre Tamiflu-Vorräte haltbar sind, bekommt man unterschiedliche Auskünfte. Zwei Beispiele: "Nach den mir vorliegenden Unterlagen läuft Tamiflu 2014 ab" (Christian Bernhard, Vorarlberg). Georg Palmisano, Oberösterreich: "Der Ablauf der Lagerfrist ist 2012." Die Vorarlberger haben den Hersteller Roche schriftlich um Auskunft über die Haltbarkeit gebeten, in Oberösterreich werden die Lagerbestände zurzeit auf ihre Wirksamkeit überprüft. "Vom Hersteller", wie Landessanitätsdirektor Palmisano sagt, "dann werden wir sehen, ob eine Fristerstreckung bis 2016 möglich ist."

Keine Vernichtungsaktion

Roche hat mittlerweile allen Landessanitätsdirektionen mitgeteilt, dass der Wirkstoff Oseltamivir bei fachgerechter Lagerung über die festgesetzten Haltbarkeitsdaten hinaus wirksam bleibt. Das hätten Stabilitätsproben von 2000 in Basel eingelagerten Beständen ergeben. Auf die Tests des Herstellers verlasse man sich nicht, sagt Sigrid Rosenberger, Sprecherin von Gesundheitsminister Alois Stöger (SP). Die Bestände würden regelmäßig von der nationalen Arzneimittelbehörde Ages PharmMed und den EU-Behörden überprüft. Tamiflu sei bis 2016 haltbar, und dann werde man weitersehen. Rosenberger: "Es wird ganz sicher keine große Vernichtungsaktion geben."

Bei der Ages PharmMed bekommt man auf die Frage, ob Tamiflu nun entsorgt werden muss, "ein klares Jein". Die Fässer haben "wahrscheinlich eine sehr hohe Haltbarkeit, 14 Jahre - vielleicht", sagt Christoph Baumgärtel, Leiter der medizinischen Zulassung bei Ages PharmMed. Die bestätigte Haltbarkeit der Kapseln betrage sieben Jahre. Bestätigt von wem? "Vom Hersteller." Der Wirkstoff sei stabil, aber die Kapselhülle nähere sich dem Verfall, sagt Baumgärtel. Die Tamiflu-Vorräte sind auch Thema bei der aktuellen Evaluierung und Überarbeitung des österreichischen Pandemieplans. Baumgärtel: "Wir werden chemische Untersuchungen machen und eine Empfehlung abgeben. Ob und wie entsorgt wird, ist dann eine politische Entscheidung."Die Entsorgung wird Millionen kosten, befürchtet Kärntens Landeshauptmann Gerhard Dörfler (FPK). Nicole Gorfer, Sprecherin von Roche Österreich, kalmiert: "Die Entsorgungskosten für eine Tonne Tamiflu, das sind rund 70.000 Packungen, beträgt je nach Entsorgungsunternehmen 240 bis 250 Euro." Kärnten hatte sich 2005 für 3,7 Millionen Euro mit Tamiflu eingedeckt. Gegen den Willen des damaligen Landesrats Dörfler: "Es war eine Geschäftemacherei der Arzneimittelindustrie, und wir haben ihr das Geld in den Rachen geworfen." Kritisch über die Vorratspolitik der damaligen Gesundheitsministerin Maria Rauch- Kallat (VP) äußerte sich auch ihr Parteikollege Josef Pühringer. Der oberösterreichische Landeshauptmann bezeichnete den vom Bund ausverhandelten Vertrag mit Roche als " Knebelvertrag". Bedingung für die Sonderkonditionen war nämlich, dass das Medikament nur im Pandemiefall verwendet werden darf. Zur Pandemie kam es nicht, die Lagerbestände blieben unberührt. Pühringer schlug die Weitergabe an Krankenhäuser in Entwicklungsländern vor und blieb ungehört. Oberösterreich hat mehr als fünf Millionen Euro in die Vorräte investiert. Wie besonders die Roche-Konditionen waren und wie hoch die Gesamtinvestitionen, wird vom Bund genauso verschwiegen wie die Lagerstandorte. Rosenberger: "Eine Gesamtsumme kenne ich nicht, die gibt es auch nicht, weil so viele verschiedene Organisationen und Firmen die Lagerbestände besitzen."

Zweifel an Wirksamkeit

Würde Roche die abgelaufene Ware zurücknehmen? "Nur unter einer Bedingung" , sagt Gorfer, "wenn die Vorräte erneuert werden." Ob neu eingekauft wird, hängt davon ab, wer sich bei der Überarbeitung des Pandemieplans durchsetzt: Tamiflu-Kritiker oder Befürworter.

Diskussionsstoff gibt es genug. So äußert die internationale und unabhängige Forschergruppe Cochrane Collaboration erneut Zweifel am Nutzen von Tamiflu im Pandemiefall. Entgegen Informationen des Herstellers und der Behörden, die Tamiflu eine hohe Wirksamkeit bei der Vorbeugung von schweren Komplikationen und der Verbreitung der Grippe-infektion bescheinigen, fanden die Cochrane-Wissenschafter keine Beweise für die Verhinderung von schweren Komplikationen oder Ansteckung. Die vom Hersteller kommunizierte Verkürzung der grippalen Symptome um 24 Stunden betrage nur 21 Stunden. Kritisiert wird auch, dass Roche nicht alle vorhandenen Studiendaten herausgebe.

Roche verteidigt sich mit einer Meta-Analyse der Harvard School of Public Health vom Juni 2011, "garantiert unabhängig und nicht von Roche finanziert" (Gorfer): Oseltamivir reduziere Komplikationen wie Atemwegsinfektionen mit Antibiotika-Behandlungsbedarf, die innerhalb von 24 Tagen nach Grippeausbruch auftreten, signifikant. Vor einer weiteren Zulassung von Tamiflu müssten europäische und nationale Behörden von Roche die Offenlegung aller Daten verlangen, fordert hingegegen die Antikorruptionsorganisation Transparency International Deutschland. (Jutta Berger, DER STANDARD, 16.3.2012)