Wie kann man nur?", fragte Nicole Yardeni vom jüdischen Dachverband Frankreichs, "wie kann man nur Kindern in einer Schule nachrennen, um sie zu töten? Das macht doch keinen Sinn!" Frankreich erholte sich auch am Dienstag nicht von dem Feuerüberfall, der am Montag drei Schüler und einen Rabbiner das Leben kostete, nachdem schon vergangene Woche drei Soldaten auf die gleiche kaltblütige Weise ermordet worden waren. Der Schock saß tief. "In Frankreich tötet man Schwarze, Juden und Araber", lautete ein riesiges Transparent bei einem Schweigemarsch in Paris, getragen von Jugendlichen.
Der Schock saß umso tiefer, als weitere Anschläge dieser Art befürchtet werden mussten. Wer würde dann das nächste Ziel des Täters sein? Und: War es ein Neonazi, ein Islamist, ein französischer Breivik, ein Sohn von Algerien-Rückkehrern mit Beziehungen zur einstigen französischen Geheimarmee OAS, der schoss? Man kommt der Sache vielleicht näher, wenn man über die Begleitumstände nachdenkt.
Die Mordserie ereignet sich mitten im Präsidentschaftswahlkampf - wohl kaum ein Zufall. In Frankreich bildet diese "Königswahl" alle fünf Jahre den Höhepunkt des politischen Lebens. Sie lässt alte und neue Leidenschaften aufleben, revolutionäre und reaktionäre, ideologische und populistische. Seit 1789 weiß man, wie abrupt sie in Frankreich hochkochen können, und 2012 tun die Kandidaten ihr Möglichstes, um sie anzuheizen - diesmal vor allem die Rechte. Innenminister Claude Guéant sinnierte schon vor Wochen über die "Überlegenheit der westlichen Zivilisation".
Marine Le Pen, Kandidatin des rechtsextremen Front National, lancierte eine Polemik um das Halal- und das koschere Fleisch; Präsident Nicolas Sarkozy sprang sofort auf den Zug auf, während er zugleich versuchte, eine Debatte über " nationale Identität" loszutreten und eine Halbierung der Einwanderungsquote zu versprechen. Und das alles in einer Wahlkampagne, in der nicht Öffnung nach außen Trumpf ist, sondern Eingrenzung, Patriotismus und Protektionismus - sowohl Sarkozy als auch sein Herausforderer François Hollande benützen diese Schlagwörter.
Sarkozy, der Sohn von Immigranten aus Ungarn und Griechenland, ist ebenso wenig Rassist wie Hollande. Doch er spielt gern mit dem Feuer, bläst kräftig in die Glut. Das bringt die Stimmung der ohnehin leidenschaftlichen " élections présidentielles" auf Touren; etwas mehr noch in Südfrankreich, wo Algerien-Heimkehrer, Maghrebiner und Sepharden eng nebeneinander leben.
Damit stellt sich die Frage von selbst: Kann dieses Umfeld, kann diese zum Teil künstlich aufgeputschte Wahlstimmung einen Geistesgestörten veranlassen, zur Tat zu schreiten? Man muss bei so irrationalen Taten sehr vorsichtig bleiben mit rationalen Kausalzusammenhängen. Tatsache ist jedoch, dass schon 2002 kurz vor den Wahlen ein Psychopath in Paris-Nanterre ein Blutbad angerichtet hatte. Bis zum ersten Durchgang der damaligen Präsidentschaftswahlen fehlten etwa gleich viele Tage wie dieses Mal.
Jetzt fordern dieselben Kandidaten, die vorher Öl ins Feuer gegossen haben, Polizeischutz für religiöse Kultstätten und rufen eine landesweite Gedenkminute aus; sie rasen an den Tatort und besuchen dann eine Synagoge. Der Mörder schaut diesem Politspektakel vielleicht im Fernsehen zu und sieht, was er alles bewirkt.(Stefan Brändle, DER STANDARD, 21.3.2012)