Aus historischer Erfahrung charakterisieren Pragmatismus und Skeptizismus die politische Grundhaltung der Tschechen, meinen intime Kenner der böhmischen Seele wie der Prager Soziologe Jirí Musil: "Man traut großen Ideen nicht." Gemessen daran sind 77 Prozent Zustimmung zum EU-Beitritt bei 55-prozentiger Wahlbeteiligung fast schon überschwänglich. Zumal auch keine Mindestbeteiligung für die Gültigkeit des Referendums vorgeschrieben war.

Als einziges der Staatsoberhäupter aller EU-Kandidatenländer, in denen bisher Referenden stattfanden, gab Václav Klaus keine Empfehlung für ein Ja ab. Stattdessen wies er auf den Verlust von Teilen der nationalen Souveränität in der EU hin und ließ damit erkennen, dass eine Nichtmitgliedschaft Tschechiens für ihn kein Unglück wäre. Amtsvorgänger Václav Havel konterte scharfzüngig: "Nur Gauner und Unredliche werden ein Stück Souveränität verlieren."

Die Tschechen blieben gelassen-pragmatisch. Ihr Votum hat eine herbfrische Note wie das böhmische Bier. Denn das Thema Souveränität ist mit dem Referendum nicht vom Tisch. Nächstes Jahr wird es möglicherweise eine weitere Volksabstimmung geben, und zwar über die EU-Verfassung. Es geht vor allem um den im Entwurf vorgesehenen Ratspräsidenten. In ihm fürchten nicht nur die Tschechen, sondern auch andere kleinere Nationen eine Art europäischen Übervater, der den anderen sagt, wohin die Reise geht. Dabei dürfte die Psychologie eine größere Rolle spielen als das tatsächliche Gewicht des Amtes.

Gerade deshalb sollte man die Bedenken nicht einfach wegwischen. Wenn sich die Neuen, die nach einem halben Jahrhundert unter sowjetischer Kuratel erst seit relativ kurzer Zeit ihre Unabhängigkeit genießen, in der neuen EU-Konstruktion nicht ausreichend wiedererkennen, werden sie beim weiteren Einigungswerk kaum engagiert mitmachen. (DER STANDARD, Printausgabe, 16.6.2003)