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Warum wollen Mittelständler, die ihre Kinder mit wohlgeputzten SUVs zur Schule bringen, plötzlich Tomaten ziehen?

Foto: corbis

Das spitzwinklig zulaufende Areal zwischen Oranien- und Prinzessinnenstraße war immer schon, solange man zurückdenken konnte, eine Freifläche. Karger, bröseliger Boden, vergessen, verlassen, liegengelassen am viel befahrenen Kreisverkehr des Moritzplatzes. Stell da ein paar Dutzend Saatkästen drauf, einen Satz alter Stühle und Tische, einen Bauwagen, in dem Bier, Bionade und ein erschwinglich kleines Menü zu kaufen sind, gebe dem Ganzen einen guten Namen - und schon ist das Berlin.

Die "Prinzessinnengärten", die seit 2009 auf der ehemaligen Brache am Berliner Moritzplatz blühen, sind die derzeit wohl berühmteste Adresse für "Urban Gardening". Mit jedem Halm verströmt diese gemeinschaftlich begrünte Nutzfläche die typische Atmosphäre der ehemals eingekesselten Stadt, die auf ewig gelernt hat, sich im Provisorium einzurichten; flüchtige Gemütlichkeit zu schaffen mit den geringsten Mitteln, mal eben Plätze umzuwidmen, temporär. Hauptsache, die Sonne scheint. Am Moritzplatz gibt es kein Eigentum an Pflanzen, dafür aber Beetpatenschaften. Geerntetes kann gekauft oder in der gemeinsamen Küche zubereitet werden. 

Komplett mobil

Und weil ganz Berlin eigentlich ein Wanderzirkus ist, der immer auf derselben Stelle kreist, sind auch die Prinzessinnengärten komplett mobil; alle Setzlinge und Pflanzen, die den Platz in ungeahntes Grün tauchen, ruhen eingetopft in Säcken, Kisten, Milchtüten, Tetra-Paks und könnten komplett auch woanders wieder aufgebaut werden. Der Pachtvertrag der flugs gegründeten "Nomadisch Grün GmbH" läuft immer nur ein Jahr, und so verbinden diese Gärten ganz berlintypisch Verwurzelung mit Mobilität, Spießigkeit mit Hipness, Urbanes mit Provinziellem und lockere Blumenerde mit beinhartem Gemäuer.

Urban Gardening liegt windschnittig im Trend der Zeit. Dass die Idee nicht neu ist, sondern ein Phänomen mit langer und teilweise schmerzlicher Tradition, zeigt derzeit die Ausstellung Hands-On Urbanism 1850-2012 im Architekturzentrum Wien (AZW). Die Schau spürt historischen Formen von Nutzbepflanzung in der Stadt nach, wie es etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Schrebergärten auf der Schmelz in Wien vormachten, und sie präsentiert internationale Fallstudien zu Selbstversorgung und wildwachsend gärtnerischer Besiedlung des Stadtraums durch meist arme Bevölkerungsteile (DER STANDARD berichtete, siehe ALBUM Architektur 17. 3. 2012).

Verschärfte Liebe zu Nutzgrün

Legendär für urbane Landwirtschaft sind die "organopónicos" und "huertos populares", Staats- und Gemeinschaftsgärten in Kubas Hauptstadt Havanna, die einen Großteil der städtisch gebrauchten Lebensmittel produzieren. Die Gärten entstanden als Reaktion auf die Versorgungskrise, in die Kuba 1991 nach der Auflösung der UdSSR stürzte.

Zu großer Berühmtheit brachten es auch die New Yorker Community Gardens, die in den 1970er-Jahren auf den Brachen leer stehender Grundstücke entstanden und von denen auch heute noch etliche als Mischung aus Gartenanlage, Nachbarschaftsinitiative und Kunstprojekt funktionieren. In den Hochzeiten zählte New York mehr als 700 solcher Gärten, Initiatorin der Bewegung - wie auch der Green Guerillas - war die Künstlerin Liz Christy.

Aneignung städtischen Raums von unten

Urban Gardening lässt sich als politische Aneignung des städtischen Raums von unten interpretieren, die Rede ist von "Landnahmen im urbanen Raum". Nicht selten kam es in der Vergangenheit zu erbitterten Kämpfen und Auseinandersetzungen um die diversen Stadtgärten, und tatsächlich haftet dem wilden Säen ja ein anarchistisches Etikett an.

In unverbrüchlicher Allianz verbündet sich Menschliches mit Pflanzlichem, um das städtische Betonkorsett und herrschende Besitzverhältnisse zu sprengen. In gewissen Phasen der Geschichte der Zivilisation hat Natur immer schon zum Politikum getaugt.

Neue Liebe zum Nutzgrün

Beim gegenwärtigen Trend zum Urban Gardening in europäischen Großstädten geht es meist weder um blanke Not noch um harten politischen Kampf. Eher ließe sich von einer eigenartig ausufernden, allgemein verschärften Liebe zum Zier- und vor allem Nutzgrün sprechen. Denn es wird öffentlich und gemeinschaftlich gepflanzt, was das Zeug hält, und es wird vor allem auch viel darüber berichtet.

Nicht nur in Berlin, wo selbst auf den Landebahnen des stillgelegten Tempelhofer Flughafens mittlerweile 7000 Quadratmeter Hochbeetfläche zur Verfügung stehen. Selbsternannte Guerilla- Gärtner begrünen wild die Städte und werfen "Saatbomben", um Lebendiges in allen Ritzen sprießen zu lassen.

Die Salzburger "Initiative Blattform" wird demnächst wieder stadtweit Sonnenblumenbepflanzungen vornehmen. In Wien beackern urbane Gärtner und Gärtnerinnen das freie Wiesenstück an der Längenfeldgasse, man buddelt in Gemeinschaftsgärten wie Macondo und dem Heigerleingarten in Ottakring, und angeblich verteilt die Stadt sogar Beetflächen im Arenbergpark.

Fast könnte man meinen, die Menschen, die sich hier gärtnerisch breitmachen, seien selbst Pflanzen, die wild ins Kraut schießen. Sichtlich gehen auch immer mehr Mitbürger und Mitbürgerinnen zur Bepflanzung der tristen Baumscheiben über. Die kleinen Erdflächen rund um die Stadtbäume werden mitunter so pittoresk mit Gartenzäunchen und Plastikwindmühlen ausgestattet, als solle die ganze Stadt öffentlich verkleingärtnern.

Warum wollen Mittelständler mit SUVs plötzlich Tomaten ziehen?

Bei all dem populären Pflanzen, Säen und Gemüsezüchten schütteln Bauern und Menschen, die auf dem Land aufgewachsen sind, nur ungläubig die Köpfe. Denn tatsächlich: Was soll das Ganze eigentlich? Sicher, der Mensch will in der Erde wühlen. Er will die Früchte seiner Arbeit sehen. Der Mensch will Dinge blühen lassen, er will ernten, und er will nicht allein sein. All diese Motive verbinden sich im Garteln. Doch warum wollen Mittelständler, die gut dotierte Stellen haben und ihre Kinder mit wohlgeputzten SUVs zur Schule bringen, plötzlich nicht mehr nur Klematis pflanzen, sondern auch Tomaten ziehen?

Warum beschäftigen sich Maschinenbaustudenten mit Karottenanbau? Im neuen "Urban Farming" scheint sich eine Mischung aus Wohlstandsverwöhntheit und unterschwelligem Unbehagen Bahn zu brechen. Es liegt eine Unsicherheit über allem und eine Ahnung, dass es so, wie es ist, nicht weitergehen wird. Dass es vielleicht doch besser wäre, Zugang zu einem Stückchen Land zu haben, wertvoller als Gold.

Es geht hier noch nicht wirklich um Ertrag, sondern um eine symbolische Selbstvergewisserung über die Möglichkeit von Solidarität und Subsistenzwirtschaft. Man könnte schon mal üben, für später, vielleicht. Auch jenseits vom Garten erfreut sich das Selbermachen ja neuerdings großer Beliebtheit. Stricken zum Beispiel will auch wieder gelernt sein.

Wertvoller als Gold

Wie schön ein Garten sein kann, nicht von ungefähr wird das Paradies als Garten dargestellt, und ein häufig verwendetes Bild für Grünflächen in der Stadt ist das der "Oase", der rettend lebendigen Wunderquelle inmitten der Betonwüste.

Ein Garten hat Erlösungsqualitäten, und genau dafür steht Urban Gardening auch. Es soll trösten. Und es soll uns ein bisschen befreien. Von der Stadt als Moloch und von der Wohlstandsangst, die vermutlich nicht nur eine Angst um den Wohlstand, sondern auch eine Angst vor dem Wohlstand ist. Er wird ja zunehmend unheimlich, so wie alles, das ins Übermaß kippt.

Man kann Urban Gardening als ein politisches Statement lesen. Grün ist eine gute Farbe, sie steht immer auf der richtigen Seite der Nachhaltigkeit, des sorgsameren Umgangs mit Ressourcen, des demokratischen Dialogs und einer sanften Revolution, die eben nur Saatgut als Sprengstoff kennt.

Doch das wäre zu kurz gegriffen. Denn Gärtnern steht auch für eine Sehnsucht nach Unmittelbarkeit und Natürlichkeit, es steht für ein anderes Zeitregime, in dem die Dinge wachsen und nicht schon fertig sind, es steht auch für eine gewisse Abschottung gegenüber den Zumutungen der Zivilisation. Wenn jetzt alle wie wild die Städte bepflanzen, ist das auch Zeichen einer tiefen gesellschaftlichen Beunruhigung: Als wollten wir uns mit aller Gewalt ins Paradies zurückschaufeln. (Andrea Roedig, Album, DER STANDARD, 24./25.3.2012)