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Anhänger des Schiitenführers Muktada al-Sadr verbrennen im März 2012 in Bagdad Bilder der sunnitischen Königsfamilie von Bahrain.

Foto: Hadi Mizban/AP/dapd

Sunniten und Schiiten.

Grafik: DER STANDARD

Als nach der US-Invasion im Irak 2003 die irakischen Schiiten zum ersten Mal seit Jahren in Massen zur Wallfahrt nach Kerbala strömten - was ihnen unter Saddam Hussein verboten war -, saßen viele Sunniten in der arabischen Welt mit einer Mischung aus Angst und Abscheu vor den TV-Schirmen: Angst vor dem voraussehbaren wachsenden Einfluss des Iran in der Region und Abscheu angesichts von religiösen Praktiken, die auch Mainstream-Sunniten reichlich suspekt sind. Der schiitisch-sunnitische Bürgerkrieg ab 2006 und die "Schiitisierung" des Iraks durch seine neue - gewählte - schiitische Regierung vertieften diese Ängste noch.

Das ist kein Gegensatz dazu, dass Sunniten und Schiiten in vielen Ländern, nicht zuletzt im Irak, die meiste Zeit ihrer Geschichte friedlich nebeneinander lebten - was viele Araber veranlasst, angesichts größer werdender Spannungen in Verschwörungstheorien zu flüchten: Der sunnitisch-schiitische Konflikt sei von imperialistischen auswärtigen Kräften implantiert, um die arabische Welt und die Muslime zu spalten, zugunsten Israels.

Das ist allein historisch nicht haltbar, die sunnitisch-schiitische Spaltung ist eine Gewaltgeschichte, Gewaltepisoden begleiten sie. Die Schiiten hatten, wie heute, oft den Geruch einer fünften Kolonne. Ein altes Beispiel ist ein Pogrom Ende des 10. Jahrhundert in Bagdad, als das Abbasidenreich militärisch unter Druck geriet und die Schiiten als Grund allen Übels ausgemacht wurden - und mit dem Ruf "Bekehrt euch zum Islam" angegriffen wurden.

Schiitenhasser Ibn Taymiya

Das war, bevor der auch heute für viele Sunniten identitätsstiftende Theologe Ibn Taymiya (gest. 1328) die Schia als Häresie verdammte und Gewalt gegen Schiiten legitimierte. Trotzdem lebten alle weiterhin zusammen. Aus dem irakischen Raum dürfte die Unterstellung stammen, Schiiten würden in ihr Essen spucken - ein Versuch der sunnitischen Autorität, Fraternisierungen zwischen den Gruppen zu verhindern.

Damals waren allerdings die Schiiten, die heute im Irak die Mehrheit stellen, eine schwache Minderheit. Viele Sunniten haben bis heute den "Verlust" Bagdads nicht überwunden. Eine Bevölkerungsstatistik Bagdads 1914 zählt auf: 120.000 Sunniten, 15.000 (sic!) Schiiten, 40.000 Juden, 2800 autochthone Christen (Chaldäer und Syrer) und eine kleine nicht-irakische Community (Griechen, Inder, Europäer).

Heute ist Bagdad eine mehrheitlich schiitische Stadt - Schiiten wurden übrigens massenhaft von General Kassem, der 1958 die haschemitische Monarchie stürzte, in der neu gebauten "Revolutions-City" angesiedelt. Kassem hoffte, sich mit dem schiitischen Proletariat eine Hausmacht heranzuziehen. Aus der Revolutionsstadt wurde später Saddam-City mit seinen Schiitenslums - und 2003 Sadr-City, nicht benannt nach dem heutigen Schiitenführer Muktada al-Sadr, sondern nach dessen Vater Muhammad Sadik, den Saddam 1999 umbrachte.

Bush, Hülagü und Alqami

Zwar saßen Schiiten auch im Inneren des Baath-Regimes, aber die religiöse Schia wurde verfolgt und als fünfte Kolonne des Iran gesehen. Und später der USA. 2003 meldete sich Saddam aus dem Untergrund zu Wort: George W. Bush habe, wie 1528 der Mongole Hülagü, Bagdad mithilfe der " Alqami" eingenommen. Ibn al-Alqami war der - schiitische - Wesir des letzten Abbasidenkalifen.

Die Wurzel des Konflikts zwischen Schiiten und Sunniten liegt in der Frage, wer die islamische Gemeinde nach dem Tod des Propheten Muhammad als Kalif leiten sollte: dessen Nachkommenschaft, wie die "Schiat Ali", die Partei Alis (des Schwiegersohns und Vetter Muhammads) meinte, oder der "Geeignetste", woran sich viele Fragen knüpfen - etwa, ob dieser auch der allerbeste Muslim der Gemeinschaft sein muss.

Ibn Taymiya zog aus der Tatsache, dass Kalif Ali die islamische Gemeinschaft in Unfrieden hinterließ, das pauschale Urteil über die Unfähigkeit und damit Unrechtmäßigkeit der Schia. Als 1979 Khomeini im Iran seine eigene schiitische Staatsform etablierte, war das ein großer Schrecken für die sunnitische Welt. Gleichzeitig war es aber auch eine Inspiration für alle islamistischen sunnitischen Gruppen. Einen Schiiten als panislamischen Führer hätten sie dennoch nie akzeptiert. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 27.3.2012)