Bild nicht mehr verfügbar.

Große Umstellung für die ehemaligen BewohnerInnen der Betreuten Wohngemeinschaft für demenzkranke Menschen im Liesinger Haus Am Mühlengrund. Die erfolgreich geführte Einrichtung wurde geschlossen, die BewohnerInnen auf Betreuungsstationen in anderen Häusern umquartiert oder in ein neues Tagesmodell integriert.

Foto: AP/Meissner

Mit strahlenden Augen begrüßt Frau Gisela die Besucher in ihrem kleinen Appartement im Liesinger Pensionistenwohnhaus "Am Mühlengrund" im Süden Wiens. Sie freut sich, wenn sie Menschen um sich hat. "Es ist heute viel los draußen am Gang", bemerkt die 89-Jährige erstaunt. "Ja, Mama, sie machen alles schöner", antwortet ihre Tochter und streicht ihr beruhigend über den Arm.

"Meine Mutter kann noch vieles selbst erledigen, aber sie versteht nicht mehr alles, was um sie herum passiert. Auch das Sprechen fällt ihr manchmal schwer", erklärt Eva Klimek die Demenzkrankheit ihrer Mutter. "Dass sie gut aussieht, ist ihr aber immer noch wichtig", schmunzelt sie. Sie sei froh, dass ihre Mutter nicht mehr alles mitbekommt, was um sie herum passiert. Denn die Betreute Wohngemeinschaft (BWG) für demenzkranke Menschen, in der ihre Mutter seit 2009 lebte, wurde mit 1. Jänner geschlossen und zum neuen Tagesbetreuungsmodell "Tag.Familie" umgebaut. BewohnerInnen, die ihren Alltag nicht mehr selbst organisieren können, werden hier nun bis 16 Uhr betreut.

Gewaltige Lebensumstellung

Für die OrganisatorInnen war die Umstrukturierung kein allzu großer Schritt, für die ehemaligen BewohnerInnen der Betreuten Wohngemeinschaft, die zum Großteil zwischen 85 und 95 Jahre alt sind, bedeutet es jedoch eine gewaltige Lebensumstellung. Denn die seit 2004 erfolgreich laufende Einrichtung war jahrelang das Aushängeschild des Pensionistenwohnhauses. Geführt wurde sie nach dem Pflegemodell von Professor Erwin Böhm, das ein vertieftes Pflegeverständnis durch die intensive Auseinandersetzung mit der Biografie dementer Menschen fördert.

"Interessenten aus der ganzen Welt kamen vorbei, um sich die Vorzeige-WG anzusehen", schildert Eva Klimek. "Eine vergleichbare Einrichtung gibt es in Wien nicht." 2006 gewann das Projekt den Innovationspreis der österreichischen Altenpflege für "Lebensqualität durch Normalität". Im November 2007 wurde es erstmals zertifiziert und erhielt auf Anhieb die Bestnote. Zwei Jahre später gab es erneut die begehrten "Fünf Sterne".

Familiär geführte Einrichtung

Neben Frau Gisela lebten in der BWG bis vor kurzem noch zehn weitere alte Menschen in eigenen Appartements. In der familiär geführten Einrichtung genossen die BewohnerInnen ihren Lebensabend in einer auf ihre individuellen Bedürfnisse abgestimmten Tagesstruktur, rund um die Uhr begleitet von Betreuern. Alte Fotos, Biedermeiermöbel und Andenken aus vergangenen Tagen schmückten die Gänge, gemeinsam wurde alten Platten gelauscht oder im vertrauten "Familienkreis" geplaudert. Auch ein Wohnraum mit "Nostalgiekino", ein Wintergarten und ein eigener Gartenbereich gehörten dazu.

Die betagten Menschen halfen je nach Können bei der gemeinsamen Hauswirtschaft mit und auch Angehörige wurden in das aktuelle Tagesgeschehen integriert. Die BewohnerInnen sollten ihren gewohnten Alltag so lange wie möglich selbstständig meistern können. Da Demenzkranke oft in der Welt ihrer Kindheit leben, wurden die Betreuerinnen zu engen Bezugspersonen und waren für manche wie Mutter, Vater oder Geschwister.

Veränderte Räumlichkeiten

Mittlerweile hat sich das Bild in den Räumlichkeiten der einstigen Wohngemeinschaft verändert: Alte Möbel und nostalgische Erinnerungsstücke sind verschwunden. Von den einstigen zehn Bewohnern sind nur mehr Frau Gisela und eine weitere ältere Dame übrig. Die anderen Menschen wurden auf Pflegestationen in anderen Pensionistenwohnhäusern in Wien verlegt, zwei von ihnen sind mittlerweile verstorben.

Ihre Mutter habe sich inzwischen an die neuen Umstände gewöhnt, sagt Eva Klimek, aber: "Es fehlt ihr die gewohnte Tagesstruktur. Ab 16 Uhr sind die Aufenthaltsräume zu, sie kann dann nur mehr am Zimmer bleiben und will daher viel zu früh ins Bett. Gemeinsames Abendessen gibt es keines und die Sozialarbeiterinnenstunden wurden stark reduziert. In der Nacht kommt nur mehr zweimal eine Kontrolle vom Stützpunkt im oberen Stockwerk."

Kostengründe für Auflösung

Die Enttäuschung über die Schließung steht Mitarbeiterinnen und Angehörigen ins Gesicht geschrieben. Man habe sehr kurzfristig von der geplanten Schließung erfahren, den Betroffenen wurden Kostengründe für die Auflösung der BWG genannt. "Meine Mutter war verunsichert, natürlich hat sie gemerkt, dass die Leute um sie immer weniger wurden", so Eva Klimek, die selbst Mitarbeiterin im Haus Am Mühlengrund war: "Dass der Fonds Soziales Wien sparen muss, ist verständlich, aber warum so unsensibel?"

Auch andere BewohnerInnen hätten vor ihrer Verlegung verunsichert reagiert, schildert Elfriede Hawel, bis 2010 Sozialarbeiterin im Haus Am Mühlengrund: "'Iss die Suppe nicht, man will uns vergiften', hat ein Bewohner zu einer Mitbewohnerin gesagt, als sie immer weniger wurden. Die Existenzangst steckt in Menschen dieser Generation einfach drinnen."

Allgemeine Standardisierung

Dass die Entscheidung, die BWG aufzulösen, aus finanziellen Gründen erfolgte, dementiert Gabriele Graumann, Geschäftsführerin des Kuratoriums Wiener Pensionisten-Wohnhäuser (KWP). Das Kuratorium ist österreichweit der größte Anbieter von Seniorenbetreuung. Der gemeinnützige Fonds betreibt in Wien insgesamt 31 "Häuser zum Leben", die rund 8.800 älteren Menschen Platz bieten.

"Seit 1. Jänner 2012 richten wir alle unsere Häuser auf ein neues, bedarfsorientiertes Leistungspaket aus", erklärt Graumann die Umstrukturierungen. "Es geht darum, die Leistungen zu standardisieren, so dass man für dasselbe Geld überall dasselbe Angebot erhält und ausschließlich förderbare Leistungen angeboten werden."

Geänderter Versorgungsauftrag

Das KWP reagiere mit dem neuen Paket sowohl auf die steigende Nachfrage nach betreuten Wohnmöglichkeiten für SeniorInnen als auch auf den dadurch geänderten Versorgungsauftrag der Stadt Wien. Im Zuge dessen sei auch die Wohngemeinschaft im Haus Am Mühlengrund in das neue Modell umgewandelt worden.

Statt Einzelleistungen, die weit teurer seien, würden künftig je nach Pflegegeldeinstufung für alle dieselben Leistungen geboten. Und im Unterschied zur bisherigen Einrichtung würden dort nun mehrere Berufsgruppen eingesetzt - statt ausschließlich Heimhilfen mit Böhm-Ausbildung. "Die grundlegende Philosophie des Böhm'schen Pflegemodells wie die Biografiearbeit wird aber weitergeführt", versichert Graumann.

Auslaufen lassen nicht möglich

Die Wohngemeinschaft mit den BewohnerInnen auslaufen zu lassen, so dass diese gemeinsam in vertrauter Umgebung ihren Lebensabend dort verbringen hätten können, sei im Rahmen der Umstrukturierung nicht möglich gewesen. "Wir haben uns aber gemeinsam mit dem Direktor des Heims für jeden Bewohner eine passende Lösung überlegt", so Graumann.

Drei BewohnerInnen, die auf Betreuungsstationen untergebracht wurden, wären wegen ihres schlechten Gesundheitszustands "in jedem Fall verlegt worden", erklärt die Geschäftsführerin. Andere, wie Frau Gisela, würden in dem neuen Modell in ihren Appartements bleiben und nur umziehen, wenn hoher Pflegebedarf besteht und die Betreuung vor Ort nicht mehr ausreicht.

Ärger über rasche Verlegung

Dass das manchmal schneller als erwartet passiert sei, ärgert Heinz Limberg, dessen 92-jähriger Vater mit seiner Lebensgefährtin ein Appartement in der Wohngemeinschaft teilte. Jetzt lebt er gemeinsam mit ihr auf einer Betreuungsstation in einem anderen Teil der Stadt. "Mit dem Haus Am Mühlengrund war vereinbart worden, dass mein Vater in das neue Modell wechselt und nachts, da es nun keine ständige Betreuung mehr gibt, ein Schlafpulver bekommt, um durchzuschlafen", so Hawel.

Das sei dann aber doch nicht erlaubt worden: "An einem Mittwoch bekam ich plötzlich die Info, dass mein Vater nicht mehr in der WG bleiben kann, am Freitag wurde er bereits verlegt. Es hieß, dass man fürchte, er könnte in der Nacht das Haus verlassen. Eine Rücksprache mit der Ärztin war nicht mehr möglich." Die medizinische Betreuung auf der jetzigen Station sei zwar gut, "aber mein Vater fühlt sich dort wie in einem Kindergarten für alte Leute, weil er noch besser beisammen ist als die meisten dort. Ihm fehlt die individuelle Betreuung, er schläft halt jetzt mehr als früher."

Abschied nehmen

Dass eine Verlegung immer eine Belastung für die Betroffenen darstellt, sei natürlich richtig, sagt Kuratoriumschefin Graumann: "Die Leiterin der BWG hat mir zwar geschildert, dass viel Trauer mit der Umstellung verbunden ist, aber eine Veränderung bedeutet immer auch, Abschied zu nehmen." Die Mitarbeiterinnen würden jedenfalls alle im Haus bleiben, mit den Angehörigen habe es im Herbst zwei oder mehrere Einzelgespräche mit dem Direktor gegeben: "Das ist absolut 'State of the Art'", so Graumann.

Die Betreuerinnen und Angehörigen fühlen sich mit dem neuen Konzept dennoch alleine gelassen und übergangen: "Man hat uns vor vollendete Tatsachen gestellt, die Bewohnerinnen der WG wurden in dem Konzept nicht berücksichtigt", ärgert sich Eva Klimek. Sie wundere sich auch, dass es bis jetzt keine eindeutige offizielle Begründung für die Auflösung gab: "Zu uns sagte man, die Schließung erfolgte aus Kostengründen, von der SeniorInnenbeauftragten der Stadt Wien hieß es auf unsere Anfrage, dass in der BWG laut Kuratorium 'baulich keine zweckmäßige Struktur zu errichten ist'. Dabei wurde sie vor Inbetriebnahme entsprechend umgebaut."

Kein Verständnis

Da jedes Mal andere Gründe angegeben wurden, sei ihnen die Schließung nach wie vor unverständlich, erklären sowohl Sozialarbeiterin Hawel als auch Eva Klimek: "Die großen Bemühungen vonseiten des Kuratoriums können wir leider nur anzweifeln. Wenn die Auflösung nicht aus Kostengründen, sondern wegen gleicher Standards in allen Häusern erfolgte, warum wird dann nicht überall eine BWG für Demenzkranke eingerichtet? Außer in Wien geschieht das österreichweit laufend."

Das neue Modell könne man nicht mit der Geborgenheit in der Wohngemeinschaft vergleichen: "Diese sehr betagten Menschen wurden aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen - jeder einigermaßen sensible Mensch kann sich vorstellen, was das in diesem Alter bedeutet." (Isabella Lechner, derStandard.at, 11.4.2012)